Der Spitzbecher des Fürsten

16.09.2016

Der Spitzbecher des Fürsten von Beckum (Foto: A. Riller).

Mein Lieblingsobjekt

Als ich während meines Praktikums im LWL-Museum für Archäologie gefragt wurde, ob ich nicht Lust daran hätte, einen Beitrag über mein Lieblingsobjekt zu verfassen, begann ich eine von vielen Wanderungen durch die Dauerausstellung. Ich wanderte recht häufig, nicht weil es an interessanten und faszinierenden Objekten mangelt, sondern weil es sich als schwierig erwies, sich zwischen ihnen zu entscheiden.

Meine Wahl viel letztendlich auf ein Ausstellungsstück, welches möglicherweise nicht den ersten Blick des Besuchers auf sich zieht, mein Interesse jedoch wohl am meisten geweckt hat – Der Sturzbecher. Glas ist ein faszinierender Werkstoff, der bereits als natürliches Vorkommen in Form von Obsidian als Schneidewerkzeug benutzt worden ist. Vor ca. 3500 Jahren begannen in Mesopotamien die ersten Menschen mit der künstlichen Herstellung von Glas als Kunst – und Nutzgegenstand. Die lange Geschichte der Glasproduktion zieht unweigerlich eine erkennbare Evolution der Herstellung, des Werkstoffes und des Endproduktes nach sich. Einen gravierenden Einschnitt in die Geschichte des Glashandwerkes nördlich der Alpen stellte der Untergang des Weströmischen Reiches dar.

Das Grab des Fürsten (Foto: C. Gretenkort).

Der Becher des Herrn von Beckum

Bei dem Objekt handelt es sich um einen Spitzbecher aus einem Grab bei Beckum, welches um 600 in die Erde gelangte. Der Bestattete war ein Mann von etwa 50 Jahren und gehörte in Anbetracht der Grabbeigaben wohl zu Gefolgsmännern des Frankenkönigs. Die Hinterbliebenen bestatteten ihn jedoch nach einheimischer Sitte, wie bei den Sachsen in der norddeutschen Tiefebene. Die legten ihn in eine Holzkammer und errichteten einen Erdhügel darüber. Der genannte Spitzbecher war eine der Grabbeigaben des Verstorbenen. Er  besteht aus lichtdurchlässigem, hellgrünem Glas und ist mit einer Fadenauflage verziert. Die Glasfäden verlaufen im oberen Fünftel parallel zueinander und umlaufen das Gefäß, während sie im unteren Teil lange, vertikale Schlaufen bilden. Der Gefäßrand biegt sich leicht nach außen und ist verdickt. Insgesamt ist der Becher 23,5 cm hoch und hat einen Randdurchmesser von 8,8 cm. Der scharfkantige Becherrand wurde vom Glasbläser nicht geschliffen, sondern durch Anschmelzen abgerundet.

Sturzbecher können ohne Gestell nicht zwischenzeitlich abgestellt werden. Sie mussten also in der Hand gehalten oder in einem Zug geleert werden, damit man sie auf dem Becherrand abstellen konnte. Da Sturzbecher ein durchschnittliches Fassungsvermögen von 175 bis 335 ml besaßen, dürfte ein solches Trinkverhalten nicht unwahrscheinlich gewesen sein. Sie wurden aber wahrscheinlich nicht ausschließlich als Trinkgefäß genutzt, denn auch als Lampen konnten sie Verwendung finden. Die Sturzbecher waren möglicherweise in ihrer Form eine Anlehnung an die gebräuchlichen Trinkhörner, welche in anderen gläsernen Trinkgefäßen eine noch deutlichere Inspiration widerspiegeln.

Eine andere Perspektive (Foto: C. Gretenkort).

Historischer Hintergrund

Mit dem Untergang des Weströmischen Reiches erlahmte auch der Handel zwischen den ehemaligen Provinzen. Die kulturelle Veränderung war jedoch eine fließende, was sich an der fortlaufend guten Technik in der Glasherstellung zeigt. Ab dem 6. Jahrhundert setzte ein Abstieg in der Qualität des Glases ein. Es wies häufig bräunliche und grüne Verfärbungen auf und war teilweise mit Bläschen durchsetzt. Eine verstärkte Ausrichtung hin zur Flachglasproduktion erfuhren die fränkischen Werkstätten unter Karl dem Großen, der sein Reich christianisierte und der Kirche zur Vormachtstellung verhalf. Die Kirchen und Klöster entwickelten sich zu Bildungs- und Handwerkszentren, da sie zum einen das Wissen des Römischen Reiches zu erhalten suchten und zum anderen die größten Abnehmer für Glas im Frühmittelalter gewesen sind. Der Markt für Hohlglas schien sich auf den privaten Bereich zu beschränken. So gewann das Flachglas im frühen Mittelalter deutlich an Bedeutung. Auch die Ansprüche änderten sich. Standen zuvor noch Reinheit und Lichtdurchlässigkeit im Mittelpunkt, schienen im Mittelalter farbige Gläser an Beliebtheit zu gewinnen.

Von der anderen Seite (Foto: C. Gretenkort).

Neues Gemenge braucht das Land

Die Färbung des Glases im frühen Mittelalter war nicht unbedingt beabsichtigt. Durch den allmählichen Zusammenbruch der ehemaligen Handelsstrukturen des Weströmischen Reiches war es schwierig, an die mineralische Soda des zwischen Kairo und Alexandria liegenden Wadi El Natrun zu gelangen, welches die wesentlichste Quelle des Weströmischen Reiches für mineralische Soda gewesen ist. Bereits 500 v. Chr. stellte man im westlichen Mittelmeerraum Glas aus mineralischer Soda her. Den Mangel an mineralischer Soda kompensierte man in den Nordwest-Provinzen des ehemaligen Reiches durch ein Gemenge, welches sich Holz- und Pflanzenasche als Flussmittel bediente. Der hohe Eisengehalt des Holzes führte zu einer grünlichen Färbung des Glases. Durch den neuen Rohstoffbezug entstanden sogenannte Waldglashütten.  Im Frankenreich begann man nun die Asche von Bäumen, größtenteils Buchen, aber auch Farnen und anderen Pflanzen zu verwenden. Das Produkt verdrängte das Glas aus mineralischer Soda bis zum Hochmittelalter völlig, sodass sich in den Aufzeichnungen des Theophilus keine Erwähnung zu diesem findet. Woher kam aber diese Idee? In Europa machte man sich schon lange die fettlösende Wirkung von Asche zu Nutze, indem man sie als Waschmittel verwendete. Die mineralische Soda hatte einen ähnlichen Effekt, was die Vermutung nahegelegt haben konnte, dass sich die Stoffe nicht nur in dieser Hinsicht ähnlich gut eignen. Der Vorteil des fränkischen Holzascheglases war, dass das Flussmittel gleichzeitig ein Abfallprodukt der Glashütte darstellte, denn auch zum Heizen der Öfen wurde Buchenholz verwendet.

Der Spitzbecher von der anderen Seite betrachtet (Foto: C. Gretenkort).

Der Forst fällt zum Opfer

Um die notwendige Asche für 1 kg Holzasche-Glas zu produzieren, benötigen die Hütten 200–250 kg Holz. Das neue Gemenge benötigte deutlich höhere Brenntemperaturen, was auf eine verbesserte Ofenkonstruktion schließen lässt. Die Glashütten zogen aufgrund ihres enormen Holzbedarfs aus den Städten in die Wälder, wo sie möglichst fern von jeder Konkurrenz um den Rohstoff ihren Betrieb aufnahmen. Die Gefahr, dass beim Transport der Waren in die Siedlungen und Städte das Glas zu Bruch gehen könnte, nahmen die Handwerker in Kauf, da der Transport des Holzes in die Stadt ein Vielfaches mehr gekostet hätte, als der Schaden, der durch einige zerbrochene Gläser entstehen konnte. Der starke Holzverbrauch der Glashütten führte dazu, dass diese nach einigen Jahren ihren Standort wechseln mussten, wenn die Ressourcen in unmittelbarer Nähe aufgebraucht waren. Eine Glashütte konnte ca. 12 Jahre arbeiten, bevor sie ihren Standort wechseln musste. Die hierdurch entstandene Rodung nahm in manchen Teilen des Reiches solch verheerende Ausmaße an, dass Kaiser Ludwig der Bayer im Jahr 1340 die Glaserzeugung um Nürnberg verbieten musste, um den Forst vor der Vernichtung zu bewahren.

In den Wäldern versteckt

Die Waldglashütten stellen die Archäologie vor das Problem, dass sie, wenn sie nicht an Klöster angegliedert waren oder schriftlich erwähnt wurden, der Forschung verborgen bleiben.  Die früheste schriftliche Erwähnung einer Waldglashütte datiert in das Jahr 1257. Aufgrund der Produktionsmenge ist jedoch von einer hohen Anzahl an Waldglashütten auszugehen.

Weiterführende Literatur

Baumgartner, Erwin/Krueger Ingeborg: Phönix aus Sand und Asche – Glas des Mittelalters, Klinkhaardt & Biermann, München 1988.

Doppelfeld, Otto: Römisches und fränkisches Glas in Köln – Schriftenreihe der Archäologischen Gesellschaft Köln, Nr.13; Greven Verlag, Köln 1966.

Siegmund, Frank: Merowingerzeit am Niederrhein, Rheinland- Verlagsges.1998.

Stern, Eva Marianne: Römisches, byzantinisches und frühmittelalterliches Glas. 10 v.Chr. - 700 n. Chr. Sammlung Ernesto Wolf; Hatje Cantz 2001.

Kurzmann, Peter: Technologie des mittelalterlichen Glases, Tübingen 2003.

Strobl, Sebastian: Glastechnik des Mittelalters. Gentner Verlag  Stuttgart 1990.

Wedepohl, Karl Hans: Spätantikes und frühmittelalterliches Glas in Mitteleuropa; in: Dunkle Jahrhunderte in Mitteleuropa? - Tagungsbeiträge der Arbeitsgemeinschaft Spätantike und Frühmittelalter, Kovač 2009.

Wedepohl, Karl Hans: Glas in Antike und Mittelalter – Geschichte eines Werkstoffs, Schweizerbart'sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2003.

 

Alexander Riller, Praktikant