Von Spiel und Gesellschaft: Schachfiguren aus dem Mittelalter

27.09.2019

Zwei mittelalterliche, einfache Schachfiguren, Foto: S.Brentführer

Geht man durch die Dauerausstellung des LWL-Museums für Archäologie in Herne, so unternimmt man eine chronologische Reise durch die Vergangenheit Westfalens. Gegen Ende der Ausstellung gibt es einen Bereich, der sich mit dem Mittelalter in der Region beschäftigt. Hier befinden sich meine Lieblingsexponate: die Schachfiguren aus dem 11. bis 12. Jahrhundert. Sie sind die ältesten, die bisher in Westfalen gefunden wurden.

Ausgegraben wurden die aus Tierknochen gefertigten Figuren 2004 am Rande der Stadt Sendenhorst im Münsterland. Der Fundort war ein großes mittelalterliches Gehöft. Funde wie die Reste einer Glasschale oder bronzene Bestandteile eines Pferdegeschirrs deuten darauf hin, dass dort nicht einfache Bauern, sondern Adelige lebten. Bei den Steinen handelt es sich um eine Dame (Abb. 1, links), und um einen Bauern (Abb. 1, rechts). Man konnte herausfinden, dass die Dame aus dem Mittelfußknochen eines Pferdes gefertigt wurde, bei dem Bauern konnte man nichts eindeutig bestimmen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Färbung könnten sie zu unterschiedlichen Schachspielen gehört haben, oder, so vermutet man, sie gehörten zu den verschiedenen Spielfarben desselben Spiels. Solche abstrakt gestalteten Figuren, die aus dem persischen Raum stammen, waren im Hochmittelalter auch in Mitteleuropa typisch. Am Fundort fand man außerdem zwei aufwendig gestaltete Spielsteine für Backgammon, Dame oder Mühle, die ebenfalls in unserer Dauerausstellung zu sehen sind.

Man nimmt an, dass Schach ursprünglich aus Indien oder China über den Nahen Osten nach Europa kam. Die Menschen passten das Spiel an das europäische Gesellschaftssystem an und somit durchlief Schach im Laufe seiner Reise einige Veränderungen. So wurde aus dem Minister die Königin, aus dem Streitwagen der Turm. Der Kriegselefant, zu Deutsch der Läufer, wurde im englischen Sprachraum zum bishop; somit erhielt dort auch der Klerus einen Repräsentanten im Spiel.

Im Mittelalter war das damals Schachzabel genannte Spiel häufig eine Sache der Elite. Im 12. Jahrhundert wurde das Schachspiel sogar als eine der Grundfähigkeiten der Ritter genannt. Viele Erwähnungen des Spiels in diversen Schriften wie Testamente und Romane belegen allerdings, dass das Spiel im Allgemeinen eine bedeutende Rolle in mittelalterlichen Kulturen einnahm. Als strategisches Spiel stand es außerdem im Gegensatz zum glücksbasierten Würfelspiel; schließlich wurde das verpönte Glücksspiel in seinen unterschiedlichen Formen immer wieder verboten.

Ab dem 13. Jahrhundert wurden auch vermehrt Bücher rein über das Schachspiel verfasst. Diese Schachzabelbücher setzten sich nicht etwa mit Strategien oder praktischen Ratschlägen für das Spiel auseinander, sondern verstanden Schach als Allegorie der mittelalterlichen Gesellschaft. Ein prominentes Werk dieser Art ist das zu Beginn des 14. Jahrhunderts verfasste „Buch der Sitten der Menschen und der Pflichten der Vornehmen und Niederen, vom Schachspiel abgeleitet“ des italienischen Dominikaners Jacobus de Cessolis. Darin beschäftigt er sich mit der Organisation zivilen Lebens und benutzt das Schachspiel, um das Bild einer vertraglich gebundenen Gesellschaft zu zeichnen, in der jeder Stand zur Gesellschaft beiträgt. Zu diesem Zweck ordnet er sogar den einzelnen Bauer-Figuren einen eigenen Berufstand zu. In Jacobus de Cessolis Augen sind nämlich nicht nur das gemeine Volk dem König zu Dank verpflichtet, sondern auch der König dem Volk, da es ihm Schutz gewährt. Ganz so wie die Bauern im Schachspiel, die dem König Deckung verschaffen. Seine Vorstellungen gehen deshalb auch einher mit der populären literarischen Metapher aus dem Mittelalter, in der das Erlenen des Schachspiels auch für eine Verbesserung der Regierungspraxis eines Herrschers steht, nicht ausschließlich für seine Fähigkeiten in der Kriegsführung.

Das Schachspiel war im Mittelalter also nicht nur Sport oder Vergnügung, sondern zugleich immer ein Spiegel der Gesellschaft. Es steht beispielhaft für die besondere Rolle, welche besondere Spiele, oder gar das Spielen selbst, in einer Gesellschaft einnehmen können. Schach ist schließlich auch heute nicht irgendein Spiel, sondern stets ein komplexes und bedeutungsschweres. Ein bekanntes Beispiel aus der jüngeren Geschichte findet sich in der Schachweltmeisterschaft 1972, ein Wettkampf, in dem während des Kalten Krieges nicht einfach Bobby Fischer gegen den amtierenden Weltmeister Boris Spasski gewann, sondern symbolisch auch das westliche Gesellschaftssystem siegreich war.

Spieleinteressierte sollten sich auf keinen Fall die neue Sonderausstellung „Pest!“ entgehen lassen, in der unter anderem auch Spiele zu sehen sind, die sich kreativ mit der Pest auseinandersetzen und uns zeigen, wie wir uns heute an die Pest erinnern. Darunter ist nicht zuletzt „Pest im Pott“, das eigens vom Spielezentrum Herne für die Sonderausstellung entwickelt wurde!

Das Spiel findet ihr in unserem Shop bei der Kasse, oder online: https://shop-archaeologiemuseum.lwl.org/spiel-spass/318/die-pest-im-pott?c=40

 

Samira Wessing, Praktikantin


Bibliographie

Adams, Jenny. Power Play: The Literature and Politics of Chess in the Late Middle Ages. The Middle Ages Series. University of Pennsylvania Press, 2006.

Eismann, Stefan. “Mittelalterliche Schachfiguren und Spielsteine aus Sendenhorst”. Von Anfang an: Archäologie in Nordrhein-Westfalen. Schriften zur Bodendenkmalpflege in Nordrhein-Westfalen. Heinz Günter Horn et al. (Hrsg.). Verlag Philipp von Zabern, 2005.

Freigang, Yasmine und Frank Tafertshofer. „Spielfreudiger Kleinadel in Sendenhorst: LWL-Archäologen finden einzigartige Schach- und Backgammon-Spielfiguren aus dem Mittelalter“ LWL-Newsroom. lwl.org. LWL, 2005.

https://www.lwl.org/pressemitteilungen/nr_mitteilung.php?urlID=14743

Abgerufen am 29.07.2019.

Kluy, Alexander. “Wie Fischer in Island den Kalten Krieg gewann”. welt.de. Welt, 2005. https://www.welt.de/politik/article562939/Wie-Fischer-in-Island-den-Kalten-Krieg-gewann.html

Abgerufen am 24.09.2019.

Schneider-Ferber, Karin. Alles Mythos! 20 populäre Irrtümer über das Mittelalter. Konrad Theiss Verlag, 2011 (2009).

Bildnachweis

Abb. 1: LWL/Brentführer.

https://www.lwl.org/pressemitteilungen/daten/bilder/019000/19500.jpg

Abgerufen am 24.09.2019.