Das Einhorn von Quedlinburg – Zwischen Mythos und Archäologie

14.11.2025 Praktikant:in

Die wirklich wahre Geschichte des Einhorns:

Der Schriftsteller Heinrich Sander erwähnte 1779 einen Übersetzungsfehler in der Bibel, welcher wohl durch die Übersetzung der Bibel vom hebräischen ins griechische entstand. So übersetzten die Gelehrten, wohl aus Unwissenheit, das hebräische Wort „Re’em“ (wahrscheinlich: „Auerochse“) mit dem griechischen Wort „monókeros“ (Einhorn). Dieser wurde dann ins Lateinische übersetzt als „unicornis“ und dementsprechend übernahm auch Martin Luther diese Formulierung und nutzte den Begriff „Einhorn“. Wirklich an Popularität gewann das Einhorn erst durch Kirchenväter, also wichtige christliche Theologen und Schriftsteller der Antike, welche die Figur des Einhorns – wie Taube, Löwe und Stier – zu einem christlichen Symbol für das göttliche Opfer machten. Bis heute hält sich die Faszination der Menschen für das sagenumwobene Tier mit dem Horn – Wissenschaftliche Beweise für das Einhorn gibt es allerdings nicht. Wie kommt es also dazu, dass im Archäologiemuseum in Herne Einhorn-Knochen ausgestellt sind?  

Wie das Einhorn zum Vorschein kam:

Bei Grabungsarbeiten im Jahr 1663 in den Seweckenbergen, dort wurde Gips abgebaut, fanden Mitarbeiter Skelett-Reste. Der Magdeburger Naturwissenschaftler Otto von Guericke (1602 – 1686) deutete diesen Fund anschließend als „Einhorn-Skelett“. Die erste Zeichnung des gefundenen Einhorns erstellte wohl Johann Meyer, ein Astronom und Schriftsteller. Diesen Umstand erwähnte der Quedlinburger Pfarrer Johann August Ephraim Goeze in seiner 1786 veröffentlichten Schrift „Ueber das vermeynte bey Quedlinburg gefundene Einhorn“, indem er beschreibt, dass Meyer selbst anwesend gewesen sei, und vermutet, dass jener auch die erste Zeichnung geschaffen hatte. In der „Protogaea“, eine Abhandlung welche der Philosoph und Jurist Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) in Auftrag von Ernst August verfasste, erwähnt dieser ebenfalls den mystischen Fund Otto von Guerickes:

„In dem Buch vom leeren Raum erzehlet Guericke bei Gelegenheit: es seie das Gerippe eines Einhorns gefunden worden, mit gebogenem Hintertheile und in die höhe gerichteten Kopfe, wie die Thiere zu liegen pflegen, mit einem Horn an der Stirne bei fünf Ellen in der Dicke eines Schienbeins, das aber nach und nach vorne abnimmt. Aus Unwissenheit der Arbeiter wurde es zerbrochen und Stückweis heraus gebracht: zuletzt brachte man das Horn mit dem Kopfe und einigen Rippen der Durchlauchtigsten Abtißin des Orts. Eben dieses wurde auch an mich überschrieben.“

Portrait von Otto von Guericke

Außerdem fügt er eine Zeichnung des Einhornes bei, basierend auf einem Kupferstich, den Nicolaus Seeländer 1716 im Auftrag für Leibniz anfertigte. Ob sich der Kupferstecher dabei auf die Skizze von Meyer bezog, gab Leibniz nicht an und ist bis heute eine ungeklärte Frage im Fall des „Einhorn von Quedlinburg“.  

Darstellung des Einhorns aus Gottfried Wilhelm Leibniz’ Protogaea

Michael Bernhard Valentini, ein Professor für Physik und Medizin in Gießen, schrieb in seinem Museum Museorum (1704) ebenfalls über das sagenumwobene Einhorn. Jedoch unterschied er in seinem Text zwischen dem Einhorn-Fund von Quedlingen, dem Narwal und dem Fabelwesen. Von ihm stammt auch eine Beschreibung der damaligen Einhorn-Funde:

„[…] ist auswendig entweder gelbicht, grau oder braun, von unerschiedlicher Größe, mürb, leicht, löchericht, eines erdichten Geschmacks und fest an der Zung klebend: Inwendig zuweilen hohl, zuweile noch eine andere weichere fette Erde in sich haltend […]“

Er äußert im Anschluss aber Skepsis, ob diese Knochenfunde nicht eher von Elefanten oder ähnlichen Tieren stammen als dem Einhorn.

Plastik des „Einhorn“, erstellt durch Urs Oberli, in Osnabrück

Im Museum am Schölerberg in Osnabrück befindet sich heute ein rekonnstruiertes „Einhorn-Modell“, welches 1998 von dem Schweizer Urs Oberli aus Epoxydharz angefertigt wurde. Er orientierte sich dabei an den Zeichnungen von Meyer, ersetzte das Horn dafür allerdings mit dem Zahn eines Narwals.

Das Exponat in der Dauerausstellung

Einhorn oder nicht Einhorn, das ist hier die Frage:

Bei dem Exponat im Archäologiemuseum in Herne handelt es sich um echte Knochen aus der Balver Höhle – solche, aus welchen das „Quedlinburger Einhorn“ damals wahrscheinlich konstruiert worden war. Die Original-Funde sind, nachdem sie wie von Leibniz beschrieben der Abtissin von Quedlinburg übergeben wurden, bis heute verschollen. Zusammengesetzt hat sich das Skelett des „Einhorns“, welches die Arbeiter des Gipsabbaus fanden, wohl aus Knochen verschiedener Tierarten:

Der Schädel gehörte zu einem Wollnashorn, die Beine, Schulterblätter und Backenzähne zu wahrscheinlich mehreren Mammuts. Man vermutet, dass es sich bei dem Horn um das Fragment eines Mammutstoßzahnes handelte.

Dieser Trugschluss fiel zu jener Zeit wahrscheinlich nicht auf, da die Menschen erst um 1800 von der Existenz des Mammuts erfuhren und der Glaube an das mystische Tier mit dem Horn auf der Stirn noch weit verbreitet war.

Und warum das Ganze?

„Nicht selten wird die Geschichte gleich von denen gefälscht, die sie machen“, dieses Zitat stammt von Wieslaw Brudzinski und steht an einer Wand der Dauerausstellung – auch wenn man Otto von Guericke keinen Täuschungsvorwurf machen möchte, so passt dieses Zitat sehr gut. Das Einhorn von Quedlinburg zeigt eindrücklich: Irren ist menschlich. Guericke wusste seinerzeit nichts über die Existenz von Mammuts und dementsprechend fiel seine Beurteilung des Fundes aus. Auch heute ist es noch wichtig, unsere Annahmen über die Geschichte zu überprüfen und gegebenenfalls durch neue Erkenntnisse zu verändern oder anzupassen. Wir sollten stetig neugierig bleiben und Dinge hinterfragen, auch wenn die dargestellten Informationen von jemandem stammen, der sehr viel Ahnung zu haben scheint. Außerdem interessant ist, dass es sich bei der Skizze um die erste Rekonstruktion eines fossilen Wirbeltiers handelt, ohne die Möglichkeit von Vergleichen zu anderen Tieren.

Abschließend lässt sich also leider festhalten: Nein, im Museum für Archäologie und Kultur in Herne liegt leider kein echter Einhorn-Knochen, aber wer weiß, vielleicht finden die Archäologen ja in einigen Jahren den absoluten Beweis für das Einhorn, und Otto von Guericke behält recht. Wer weiß das schon…

 

Karen Fischer, Praktikantin


Literaturverzeichnis

Crista Tuczay: Das Einhorn in christlichen und mittelalterlichen Quellen, in: Crista Tuczay: Dämonen, Monstren, Fabelwesen, PDF, S. 47–50

Heinrich Sanders, „Kleine Schriften“, Herausgeber: Georg Friedrich Goetz, 1799, S. 101-102

https://doi.org/10.11588/diglit.52956#0007

Gottfried Wilhelm Leibnitz, Protogaea, 1749, S. 100 – 101

'Leibniz, Gottfried Wilhelm: Gottfried Wilhelm Leibnitzens Protogaea Oder Abhandlung Von der ersten Gestalt der Erde und den Spuren der Historie in den Denkmaalen der Natur', Bild 130 von 142 | MDZ [14.11.2025]

Fritz Krafft, Die Mär um das vermeintliche Guerickesche Einhorn“, in: Monumenta Guerickiana – Zeitschrift der Otto von Guericke Gesellschaft e.V., 2016, S. 15 – 26

Valentini, Michael Bernhard: Museum Museorum, Oder Vollständige Schau-Bühne Aller Materialien und Specereyen, 1704, S. 481, 483

'Valentini, Michael Bernhard: Museum Museorum, Oder Vollständige Schau-Bühne Aller Materialien und Specereyen. [1]', Bild 521 von 660 | MDZ [14.11.2025]

Gottfried Wilhelm Leibniz - Deutsche Digitale Bibliothek [14.11.2025]

Otto von Guericke - Deutsche Digitale Bibliothek [14.11.2025]

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Bild vom Exponat in der Dauerausstellung

Bildrechte: LWL MAK/Karen Fischer
Autor: Karen Fischer

 

Abb. 2: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Otto_von_Guericke_portrait.jpg

Autor:   Anselm van Hulle, 1601-1674

 

Abb. 3: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Leibniz-Einhorn.gif

Quelle: Protogaea von G.W.Leibniz

 

Abb. 4: File:Einhorn-Guericke.jpg – Wikimedia Commons