Das älteste Schmuckstück Westfalens - eine echt luxuriöse Geschichte...

24.06.2024 Praktikant:in

Klein aber fein: So in etwa könnte man mein Lieblingsexponat beschreiben. Auf den ersten Blick unscheinbar, offenbart es bei näherem Hinsehen seine Besonderheit. Auf dem Rundgang durch die Dauerausstellung erreicht man schon nach kurzer Zeit die Glasvitrine, in der sich verschiedenste Objekte befinden: Abschläge von Steinartefakten, Knochenreste und auch dieser kleine unscheinbare Eckzahn. Der Eckzahn ist 50 Millimeter lang und 15 Millimeter breit und damit, verglichen mit anderen Schmuckstücken der Dauerausstellung, eher klein und unscheinbar. Der Zahn weist nahe der Zahnwurzel ein kleines Loch auf – dort wurde vermutlich eine Schnur eingeführt, um den Zahn dann als Halskette zu tragen. Ganz schön modisch, oder? Man verbindet mit der Steinzeit heutzutage eher das Jagen von Mammuts, das Kämpfen gegen Säbelzahntiger und das Tragen von Lendenschurzen. Aber der Eckzahn beweist: Auch Menschen in der Steinzeit hatten einen Sinn für Ästhetik und Schönheit.

Fundort und Beschreibung

Der Eckzahn wurde in Rüthen-Kallenhardt bei Soest gefunden, genauer gesagt im sogenannten „Hohlen Stein“ – einer Kulturhöhle, die viele archäologische Funde beherbergt hat. Neben der Balver Höhle ist der Hohle Stein eine bedeutende archäologische Fundhöhle in Nordrhein-Westfalen. Die Höhle ist nur knapp 55 Kilometer von Herne entfernt.

Tatsächlich war es bei den ersten ausführlichen Grabungen im Hohlen Stein (1925-1938) relativ einfach, erste Funde zu erkennen. Die ersten Funde waren in einer sehr oberflächennahen Sinterschicht eingebettet. Sinter entsteht natürlich durch mineralische Ablagerungen und bildet krustenförmige Überzüge, kommt besonders häufig in Höhlen, Bergwerken und feuchten Stollen vor und kann dort Tropfsteine bilden.

Zu den archäologischen Funden im Hohlen Stein gehörten Tierreste, Steingeräte und auch menschliche Überreste. Neben vorrömischen, eisenzeitlichen und frühmittelalterlichen Funden gehörte die Mehrheit der spätpaläolithischen Ahrensburger Kultur an – das waren die letzten Rentierjäger Mitteleuropas vor knapp 12.000 Jahren.


Der Eckzahn wird auf 10.800-9.600 v. Chr. datiert und wird auch salopp als „ältestes Schmuckstück Westfalens“ betitelt. Der Zahn ist sauber an der Wurzelspitze abgeschnitten und gelocht. Die schöne Erhaltung der Form und auch die Größe des Exponats weisen auf eine rein dekorative Verwendung hin; im Hohlen Stein wurden zum Beispiel aber auch gelochte Knochen gefunden, die als Pfeifen gedeutet werden können.

Durchlochte Raubtierzähne aus der Duruthy-Höhle bei Sorde-l'Abbaye, heute ausgestellt im Musée d'Histoire naturelle, Toulouse. Foto: Rama, CC-BY-SA 2.0 FR über Wikimedia Commons.
Jungsteinzeitliche Kreideperlen-Halskette aus den Marnegrotten in Frankreich. Zeichnung vom Archäologen Paul Aveneau de la Granciére, 1897.

Frühe Schmuckkunst: Von Tierzähnen zu Muschelanhängern

Im Laufe des Paläolithikums und des Neolithikums fanden erst sogenannte „Hirschgrandeln“ als Schmuck ihren Platz in Europa. Hirschgrandeln sind Eckzähne von Hirschen, die bearbeitet und poliert werden, um dann als Jagdtrophäe und Schmuck eingesetzt zu werden. „Grandel“ ist hierbei ein jagdlicher Überbegriff für allerlei Trophäen. Als diese „aus der Mode“ kamen, werden die Hirschgrandeln durch Hunde- und andere Raubtierzähne ersetzt, aber auch Bärenklauen und Eberhauer werden als Schmuck getragen.

Ähnliche Schmuckstücke finden sich überall auf der Welt, teilweise sind diese bis zu 150.000 Jahre alt. Seit Jahrtausenden tüfteln die Menschen bereits an Ketten, Anhängern und Armreifen. Man könnte sagen, der Sinn für Ästhetik und Kunst steckte schon immer in uns. So fand man in Südafrika zum Beispiel Anhänger aus bearbeiteten Schneckenhäusern, die knapp 70.000 Jahre alt sind. In der Nähe des marokkanischen Küstenortes Essaouira, genauer gesagt in der Bizmoune-Höhle, fand man durchlöcherte Muscheln, die poliert und rot gefärbt waren. Diese Muscheln wurden vermutlich zu Halsketten, Ohrringen und Armbändern verarbeitet; die Muschelschalen sind etwa 150.000 Jahre alt und gelten als „älteste Schmuckstücke der Welt“.


Es ist kein Zufall, dass eine der ersten Schmuckornamente aus Muscheln gefertigt wurde. Jeder Mensch hebt irgendwann mal eine Muschel auf und findet sie schön – und wünscht sich, die Muschel mit nach Hause zu nehmen, als Schmuck- oder Erinnerungsstück. Es ist faszinierend, diesen alltäglichen Gedankengang in der Menschheitsgeschichte immer wieder beobachten zu können. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs, denn es gibt höchstwahrscheinlich noch viel ältere Schmuckstücke, die man noch nicht gefunden hat.

Jungsteinzeitlicher Schmuck aus Knochen und Muscheln. Heute ausgestellt im Vietnam National Museum of History. Foto: CC BY 1.0 über Wikimedia Commons/G. Todd.

Die menschliche Sehnsucht nach Schönheit

Wer interessiert sich denn schon für einen Wolfs- oder Hundezahn, wenn es so viel schönere und prunkvollere Schmuckstücke in derselben Ausstellung gibt? Es ist meine kindliche Faszination mit der Menschheit und unsere damit einhergehende Menschlichkeit. Immer, wenn ich durch Museen streife und mir dort die verschiedensten Objekte, Schmuckstücke, Waffen und andere historische Relikte anschaue, kommt mir als Erstes eins in den Sinn: Das hat ein Mensch gemacht, mit seinen eigenen Händen. Ein Mensch wie ich, wenn auch vor Tausenden von Jahren. Und es scheint, als hätten wir Menschen uns kaum verändert…

Ob das Schmuckstück mal als Geschenk an eine geliebte Person verschenkt wurde oder als prachtvolle Jagdtrophäe getragen wurde, kann man heute nur noch erahnen. Aber eins steht fest: Auch Menschen vor 12.000 Jahren wollten sich schmücken, gut aussehen, imponieren und ihre Gruppenzugehörigkeit nach außen tragen. Diese Eigenschaft zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte und umgibt Archäolog:innen beinahe täglich. Heute sind es Markensneaker und Designerschmuck, früher waren es Kreuzfibeln oder Haarnadeln, aber auch mal Tierzähne, die in mühseliger Kleinarbeit dem Tier entnommen und bearbeitet wurden, um diese dann wie ein zentrales „It-piece“ am Körper zu tragen. Womöglich, damit andere Leute staunen, vielleicht auch nur als kleine Erinnerung an den geliebten Hund.

Halskette aus durchlochten Tierzähnen als Grabbeigabe aus dem Galeriegrab Uelde (ca. 3500-2700 v. Chr.), heute im LWL-Museum für Archäologie und Kultur Herne. Foto: LWL-Museum für Archäologie und Kultur/Herne, M. Zimmer.

Fazit

Seit unzähligen Jahrtausenden dient Schmuck nicht nur als Zierwerk, sondern als kraftvolles Statussymbol, tief verwurzelt in der menschlichen Zivilisation. Der durchlochte Eckzahn ist ein bedeutungsvolles Zeugnis der menschlichen Kultur, das von unserer ungebrochenen Faszination für Schönheit und Ausdruckskraft erzählt. Er spiegelt die Bestrebungen unserer Vorfahren wider, sich durch Handwerkskunst und Ästhetik auszudrücken. Der Eckzahn ist somit nicht nur Schmuck, sondern ein faszinierendes Fenster in die Geschichte der Menschheit und ihr Streben nach Ausdruck und Schönheit.

 

Melissa Zimmer (Studentische Praktikantin)


Literaturverzeichnis

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J. Sudilovsky, 7. Juni 2022, „What jewelry did people wear 120,000 years ago?“ aus der Jerusalem Post - What jewelry did prehistoric people wear 120,000 years ago? - The Jerusalem Post (jpost.com), zuletzt abgerufen am 23.05.2024 um 09:22.

M. Baales. Umwelt und Jagdökonomie der Ahrensburger Rentierjäger im Mittelgebirge. Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 38, 1996, 203-255.

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W. Schrickel, Westeuropäische Elemente im neolithischen Grabbau Mitteldeutschlands und die Galeriegräber Westdeutschlands und ihre Inventare, Beitr. Z. Ur- und Frühgeschichte arch. d. Mittelmeer-Kulturraumes 4-5, 1966.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Durchlochter Hundezahn :: LWL-Museum für Archäologie Herne :: museum-digital:westfalen – CC BY-NC-SA

Abb. 2: File:Flickr - Wikimedia France - PRE.2010.0.13.1.jpg - Wikimedia Commons – CC BY-SA 2.0 FR

Abb. 3: File:Neolithic Bone and Shell Jewelry (9732870709).jpg - Wikimedia Commons – CC BY 1.0

Abb. 4: Aus „Les parures préhistoriques et antiques en grains d’enfilage et les colliers talisman Celto-Armoricains précédé d’un apergu sur les temps préhistoriques“, Zeichnung von Paul Aveneau de la Grancière, Paris 1897, S. 29, Abb. 6.

Abb. 5: Exponat der Dauerausstellung im LWL-Museum für Archäologie in Herne. Foto: LWL-Museum für Archäologie und Kultur/M. Zimmer.