Das linienbandkeramische Doppelgefäß von Warburg–Hohenwepel

16.04.2024 Praktikant:in

Jedem Museumsbesucher schwebt vermutlich ein großes, metaphorisches Fragezeichen über dem Kopf, wenn sie das Bild meines Lieblingsexponates sehen. Sie können sich schwören, dieses Gefäß noch nie in dem Museum gesehen zu haben…oder? Da liegen Sie korrekt, denn dieses Exponat befindet zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Textes (noch) nicht in der Dauerausstellung. Es wurde mir dennoch erlaubt über dieses interessante Gefäß zu schreiben, da ich mich durch mein Studium der Ur- und Frühgeschichte besonders für die Keramikkulturen der Steinzeit interessiere. Während dem Laien vermutlich die besondere Installation von zwei ineinander verschachtelten Gefäßen bzw. Kümpfen (Maße: 8x7 cm und 11x11 cm) ins Auge fällt, ist es für die Archäolog:Innen vor allem die Datierung (im Zusammenhang mit dem Fundort), die dieses Stück besonders macht: 5200/5100 v. Chr.

Eine Zeitreise: Die Warburger Börde während der Jungsteinzeit

Zu diesem Zeitpunkt ist es gerade mal knapp 100 Jahre her, dass ein Prozess, der ursprünglich aus dem fernen Orient stammt, auch in Westfalen Wurzeln geschlagen hat: Die Neolithisierung. Bevor ich aber darauf eingehe, was diese „Neolithisierung“ überhaupt bedeutet, nehme ich Euch auf eine Zeitreise mit und zwar nach Warburg-Hohenwepel, dem Fundort des Exponats, um 5200 v. Chr.

Ihr steht inmitten einer großen gerodeten Fläche. Um Euch herum markieren kleine Hügel die Gräber von mehreren Individuen, insgesamt sind es fast 600. Im Osten könnt Ihr hölzerne Pfosten sehen, die einen Palisadenzaun bilden, der eine Siedlung umgibt. Diese Siedlung besteht aus fünf Häusern, welche mit einigem Abstand zueinander gebaut wurden. Zwischen den Häusern der geschützten Siedlung erstrecken sich Felder mit Emmer und Einkorn. Ihr könnt das Blöken von Schafen, das Muhen von Kühen oder das Grunzen von Schweinen ausmachen, die vor den Häusern eingezäunt grasen. Weiter nördlich könnt Ihr zwischen den Bäumen, die den Ederbach umgeben, weitere Häuser erkennen. Sie werden nicht von einer Palisade geschützt. Aus den Häusern dringen Stimmen und Geräusche: Männer und Frauen, die Mehl mahlen, Keramik in lehmgeschlickten Öfen brennen, sorgfältig Verzierungen in bereits geformte Keramik ritzten, oder Kinder, die ihren geliebten Hund mit einem Lachen aus dem Haus jagen. In den Wäldern, die die Siedlung umgeben, hört Ihr das leise Knacken von Menschenfüßen, die mit gezücktem Bogen die Fährte eines Hirsches aufnehmen. Wenig weiter das stumpfe Klopfen von Hufen auf weichen Waldboden, denn hier weiden ebenfalls die Herden. Als Ihr Euch umdreht, seht Ihr gerade eine Gruppe Menschen die Siedlung betreten. Sie haben geschossenes Wild, meisterlich gefertigte Steinwerkzeuge und vor allem den überlebenswichtigen Feuerstein dabei. Sie tauschen ihre Waren gegen gebackenes Brot, gebratenes Fleisch oder Wolle. Diese Menschen gehören eindeutig nicht zu den Dorfbewohnern, sie kleiden sich anders und waren augenscheinlich lange unterwegs, den müden Gesichtsausdrücken nach zu beurteilen. Diese Unterschiede aber scheinen niemandem etwas aus zu machen, es werden Geschichten ausgetauscht und Waren gehandelt. Ein aufgeregter Schrei löst sich aus dem hinteren Dorf und schon flitzen zwei junge Damen zu den Neuankömmlingen. Zwei Töchter, die ihre leibliche Familie begrüßen, während ihre Partner und ihre Kinder langsamer und behutsamer aus den Häusern treten.

Diese Beschreibung wird durch Befunde und Funde aus der jungsteinzeitlichen Siedlungskammer bei Warburg-Hohenwepel (Bezeichnung für das Gräberfeld) bzw. Borgentreich-Großeneder (Bezeichnung für die Siedlungen) gestützt sowie durch allgemeine Informationen, die die Forscher:Innen über die Jungsteinzeit, das Neolithikum und das Leben in der Warburger Börde gesammelt haben. So wurde z.B. tatsächlich durch Strontium-Analysen festgestellt, dass zwei der 134 Körpergräber von noch mesolithisch-lebenden Menschen stammten. Es war meine eigene Interpretation, sie weiblich zu machen und sie in die hier lebende Gesellschaft „einheiraten“ zu lassen. Das Konzept von Heirat ist nur mit Vorsicht in diese Zeit zu versetzen, vermutlich handelt es sich hier eher um eine Art Austausch oder Versprechen zwischen zwei Gruppen. Die oben genannten Eindrücke gilt es jetzt mit den Befunden und Funden zu vergleichen.

Lokalisierung der beiden Siedlungen bei Warburg-Hohenwpel bzw. Borgentreich-Großeneder.© in dem Bild, bearbeitet von: E.T. Seraphim (Seraphim 2006, 2) (siehe Literaturverzeichnis).

Die neolithische Siedlungskammer: Zwei Siedlungen, ein Gräberfeld

Der Fundort der Gefäße ist das Gräberfeld von Hohenwepel bei Warburg im Kreis Höxter, welches wiederum von insgesamt zwei zeitgleich existierenden Siedlungen genutzt wurde. Das ca. 4000m² große Gräberfeld wurde 2011 durch Zufall entdeckt und dann zwischen 2012 und 2018 ausgegraben. Archäologisch auffällig wurde die jungsteinzeitliche Siedlungskammer bereits in den späten 1980ern und frühen 1990ern, als hier eine Erdgasleitung gelegt werden sollte und daraufhin die beiden Siedlungen entdeckt wurden. Während die initiativen Arbeiten bereits 1993 abgeschlossen waren, wurden die Siedlungen und entdeckte Befunde erneut und ausführlicher in den späten 2000ern ausgegraben. Die nördliche Siedlung existierte zwischen 5200 und 5100 v. Chr., wurde aber aus unbekannten Gründen aufgegeben und die Bewohner zogen in die bereits entstehende südliche Siedlung, welche zwischen 5125 und 4800 v. Chr. existierte. Über den Zeitraum von fast 300 Jahren wuchs die Siedlung so stark an, dass mehrere Grabenerweiterungen gebaut werden mussten, sodass am Ende mindestens 4 Graben mit begleitendem Palisadenzäunen die Siedlung schützten. Das Gräberfeld wurde von beiden Siedlungen genutzt und beherbergte ursprünglich fast 600 Bestattungen, was aber bedeutet, dass nur ein kleiner Teil der Bewohner bestattet wurde.

Siedlungskammer (Großeneder I und II) und Gräberfeld (Hohenwepel) in der Warburger Börde. Das Gräberfeld im Norden existiert nicht. Hier wurde lediglich eine Einzelbestattung gefunden. (Die hier verwendete Literatur ist veraltet, leider hatte ich keinen Zugriff auf die Dissertation von Fritz Jürgens, wo die aktuelle Version dieser Karte aufzufinden ist). © Hans-Otto Pollmann (Pollmann 2015, 331) (siehe Literaturverzeichnis).

Die Forschung geht davon aus, dass zwischen 5200 und 4800 v. Chr. insgesamt zwischen 2000 und 3000 Menschen in den beiden Siedlungen wohnten. Bei diesen Menschen handelte es sich um Angehörige der Linienbandkeramikkultur. Sie werden oft als die ersten Bauern Europas betitelt und lebten, wie oben schon beschrieben, von Getreideanbau und Viehhaltung. Beweise dafür sind: Funde von 12 Kilogramm verbranntem Getreide, welches aus Einkorn und Emmer besteht, sowie tierische Überreste von Rind, Schwein, Schaf oder Ziege. Jagdwild bzw. Knochen von Wildtieren wurden zwar nicht entdeckt, aber man kann durchaus davon ausgehen, dass die frühesten Bauern in Westfalen noch teilweise von der Jagd lebten. Zumindest wurden Pfeilspitzen gefunden, die von Jagdbemühungen sprechen. Zuvor, im Mesolithikum (Mittelsteinzeit), lebten die Menschen in diesem Raum noch anders. Ihr Lebensrythmus war auf die Wanderzyklen der Tierherden abgestimmt, es gab schlicht keine Zeit wirklich sesshaft zu werden. Falls „Häuser“ aus dieser Zeit gefunden werden, waren dies meist Überwinterungsmöglichkeiten. Wie kam es aber dazu, dass sich die Lebensweise so drastisch verändert hat? Wer waren die Neolithiker und woher kamen sie?

  • Inkohltes Getreide aus der Siedlung

    Inkohltes Getreide aus der Siedlung. Die drei Ähren (Emmer) stammen aus experimentellem Feldbau. ©REVOLUTION jungSTEINZEIT, 170 (siehe Literaturverzeichnis).

  • Pfeilspitzen aus Feuerstein

    Pfeilspitzen aus Feuerstein verschiedener Herkunft, Siedlung I. © E.T. Seraphim (Seraphim 2006, 17) (siehe Literaturverzeichnis).

  • Entfernungen zu Rohmaterialien

    Entfernungen, die für Rohmaterialbeschaffung zurückgelegt werden mussten. Dadurch ist der Kontakt mit mesolithischen Gruppen unausweichlich gewesen. © E.T. Seraphim (Seraphim 2006,  51) (siehe Literaturverzeichnis).

Kartierung der Anfänge der Nahrungsproduktion. Wichtig ist, dass die Datierungen sich nur auf die Verbreitung des Ackerbaus bezieht! © Silviane Scharl (Scharl 2015, 42 und 43) (siehe Literaturverzeichnis).

Das Neolithikum kommt nach Westfalen

Das Neolithikum umschreibt einen Prozess (Neolithisierung), der über tausende von Jahren stattfand und die bisherige (weltweite) Lebensweise der sogenannten „Jäger und Sammler“ beendete. Die Menschen wurden sesshaft, lernten, Pflanzen und Tiere zu domestizieren und Keramik herzustellen, wobei einige dieser Aspekte teilweise schon vorher existierten. Kulturen, die aber ausschließlich durch und von diesen Neuerungen lebten, gab es vor den „Neolithikern“ nicht. Forscher:Innen gehen allgemein davon aus, dass die Neolithisierung um ca. 10.000 v. Chr. im sogenannten „Fruchtbaren Halbmond“ eingesetzt hat. Nur hier kommen nämlich alle Wildformen der im Neolithikum genutzten Getreide- und Tierarten vor. Hier entwickelten sich auch die ersten großen Städte, welche schon bald in den Norden und Westen auslagerten, da ihre Population zu schnell anwuchs. Somit verbreiteten sich nicht nur Menschen, sondern auch ihr Wissen und Lebensweise. Die Neolithisierung hatte begonnen.

Einzelne Phasen der Neolithisierung (auf Sesshaftwerdung bzw. Siedlungsbau bezogen).© Wikimedia, File:Neolithikum Ausbreitung.jpg - Wikimedia Commons.

Von dem Orient aus, so vermuten Forscher:Innen, gab es insgesamt zwei Richtungen, in die die Neolithiker strömten, wobei nur eine für den westfälischen Raum interessant ist. Sie verlief über den Nordbalkan Richtung Ungarn und von dort aus in das Donau-Tal. Hier trafen die Neolithiker um ca. 6000 v. Chr. auf die mesolithische Kultur der Starčevo. Sie waren die ersten Gruppen Osteuropas, die mit den Bauern des Fruchtbaren Halbmonds in Kontakt traten und ihre Lebensweise aufnahmen. Durch die Vermischung dieser beiden Kulturen entstand die Linienbandkeramik bzw. die Kultur der Linienbandkeramiker. Diese Linienbandkeramiker lösten sich von alten Traditionen und Sitten, nahmen die Lebensweise und Kultur der Einwanderer an und zogen weiter. Zunächst in die transdanubischen Lössgebiete, schnell aber entlang der Donau nach Österreich, Mähren und Mitteldeutschland. Das Neolithikum bzw. die Linienbandkeramiker und ihre Kultur erreichten dann um 5400 v. Chr. schließlich Westfalen, spezifisch die Bördenlandschaften, so auch die Warburger Börde. Eine Landschaft die reiche Lössböden hat und gespickt ist von kleinen Seen und Teichen (damals) und so die perfekten Lebensbedingungen für die sesshaften Bauern bot.

Beispiele von linienbandkeramischen Kümpfen. Sie stammen aus dem Gräberfeld Jüchen-Holz (mitte links), den Siedlungen Morschenich (mitte rechts), Arnoldsweiler (unten und hinten links), Soest Östonnen (hinten rechts). © REVOLUTION jungSTEINZEIT, 232 (siehe Literaturverzeichnis).

Der Zeitzeuge der ersten Bauern – das Gefäß

Ich glaube es wird durchaus verständlich, wieso das Doppelgefäß ein solch einzigartiger Fund ist, denn es wird genau dieser Kultur zugeschrieben und ist aufgrund der Datierung ein Zeitzeuge der ersten Linienbandkeramik-Generationen in Westfalen. Das Gefäß selbst besteht aus unzähligen Einzelteilen, die von einer fähigen Restauratorin geschickt wieder zusammengesetzt wurden.  Sie geht davon aus, dass die Öffnung des größeren Gefäßes künstlich geweitet wurde, der kleinere Kumpf hineingestellt wurde und dann wieder verschlossen wurde. Es besteht aus dunkel, aber unregelmäßig gebranntem, groben Ton, der im Bruch hell ist. Während das größere Gefäß komplett unverziert vorliegt, weist das zweite, kleinere Gefäß die markanten, geritzten Linienbandverzierungen auf, ebenfalls besitzt es Ösen am Bauch. Eben diese Verzierungen geben der Kultur ihren Namen. Ich könnte jetzt weit ausholen und jede einzelne Verzierungstechnik beschreiben, aber ich glaube es reicht, wenn ich schreibe: Die Linienbandkeramik zeichnet sich dadurch aus, dass auf den Körper des Gefäßes, meist auf Schulter- und Bauchbereich, ausladende, sich wiederholenden Spiralen, Rillen, Winkeln, Mäander oder Bögen geritzt oder gestochen werden. Je jünger die Keramiken, desto vielfältiger und detaillierter wird die Verzierung. Das hier vorhandene Gefäß ist ein Beispiel des sogenannten Flomborn-Stils, eine spezifische Verzierungstechnik der Linienbandkeramik. Dieser Stil entwickelt sich in der ältesten Linienbandkeramik-Phase, während die Einwanderer aus dem Baltikum sich mit der Starčevo-Kultur vermischten und die Linienbandkeramiker entstanden. Die Funktion des Gefäßes ist nirgendwo erwähnt worden. Da es sich aber um Grabbeigaben handelt, wird in dieser besonderen Installation vermutlich ein ritueller Gebrauch gesehen worden sein. Vielleicht wurde in dem kleineren Gefäß ein Mitbringsel für das Nachleben deponiert und sollte von dem größeren Gefäß geschützt werden?

 

Frauke Todt, Praktikantin


Literatur

H.-O. Pollmann, Die befestigte linearbandkeramische Zentralsiedlung von Borgentreich-Großeneder, in: LWL-Archäologie für Westfalen (Hrsg.), Archäologie in Westfalen-Lippe 2011 (Langenweißbach 2012) 37-40.

H.- O. Pollmann, Die bandkeramische Siedlung I von Borgentreich-Großenender, Kreis Höxter, in: Daniel Bérenger (Hrsg.), Archäologische Beiträge zur Geschichte Westfalens. Festschrift für Klaus Günther zum 65. Geburtstag, Studia honoria 2, 1999, 27-36.

H.-O. Pollmann, Halbzeit – Zahnschmelz, Flint und Flomborn im Gräberfeld von Warburg – Hohenwepel, in: LWL-Archäologie für Westfalen (Hrsg.), Archäologie in Westfalen-Lippe 2015 (Langenweißbach 2016) 32-35.

L. Pak – H. O. Pollmann, Alles wird anders – die neolithische Revolution erreicht Westfalen, in: LWL-Archäologie für Westfalen (Hrsg.), 100 Jahre/100 Funde. Das Jubiläum der amtlichen Bodendenkmalpflege in Westfalen-Lippe (Darmstadt 2020) 70.

H.-O. Pollmann, Das linienbandkeramische Gräberfeld von Warburg-Hohenwepel, LWL-Archäologie für Westfalen (Hrsg.), Archäologie in Westfalen-Lippe 2012 (Langenweißbach 2013) 35-37.

E. Th. Seraphim, Linienbandkeramiker beiderseits des Ederbaches bei Hohenwepel/Großeneder in der Warburger Börde (Bönen 2006).

H.-O. Pollmann, Frühe Ackerbauern und Viehzüchter in Westfalen. Borgentreich-Großeneder und das Gräberfeld von Warburg-Hohenwepel, in: Thomas Otten et al. (Hrsg.), REVOLUTION jungSTEINZEIT. Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen (Darmstadt 2015) 330-333.

H.-O. Pollmann, Archäologie auf der MIDAL-Trasse in Ostwestfalen. Arch. Korrbl. 24, 1994, 375-384.

F. Jürgens, Der bandkeramische Zentralort von Borgentreich-Großeneder (Kr. Höxter), Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 340 (Bonn 2019).