Die Zeit im Gepäck – Die kleine Klappsonnenuhr

16.05.2025 Praktikant:in

Foto: Stefan Brentführer; bearbeitet von Christiane Gerda Schmidt und Barbara Schulte-Linnemann

Zwischen eindrucksvollen Medieninstallationen, Knochen und historischen Alltagsgegenständen zieht mich in der Dauerausstellung immer wieder ein unscheinbares, aber faszinierendes Objekt in seinen Bann: eine kleine Klappsonnenuhr aus Elfenbein, kaum größer als eine Streichholzschachtel. Bei genauerem Hinsehen fällt auf: Sie ist nicht mehr vollständig, nur der obere Teil, der Deckel, ist bis heute erhalten geblieben.

LWL-Museum für Archäologie und Kultur/ Foto: André Burmann

Dieser Deckel ist seit 2022 im Zeitkubus in der Mitte des Ausstellungsraumes zu entdecken. Der kleine würfelförmige Raum greift die Zeit als wichtiges Thema der Menschheitsgeschichte auf. Er thematisiert, wie Menschen damals wie heute mit Zeit umgehen und wie sie sie wahrnehmen. Zeit zieht sich in Form eines Zeitstrahls auch als Ordnungskategorie durch die Ausstellung und durch das Fach der Archäologie. Ich schreibe jedoch als Kulturanthropologin diesen Blogartikel. Aus dieser Perspektive heraus fasziniert mich Zeit besonders als kulturelles Konstrukt, das den gelebten Alltag von Menschen prägt und strukturiert. Was kann uns ein so kleiner, alltäglicher Gebrauchsgegenstand wie die Klappsonnenuhr über das Zeitverständnis der Menschen und das gesellschaftlich geprägte Zeitregime vergangener Zeiten verraten?

Foto: Thomas Märtens

Diese Uhr tickt anders – Geniale Konstruktion auf kleinstem Raum

Die Klappsonnenuhr bestand aus zwei Teilen: einem Oberteil mit eingraviertem Zifferblatt und einem ursprünglich vorhandenen (vielleicht ebenso gravierten) Unterteil mit Kompass, verbunden durch ein Scharnier. Das Oberteil im Museum ist länglich, achteckig und hat die Maße 36 x 29 x 2,5 mm. Die vollständige Uhr mit dem Unterteil war vermutlich um die 1 cm dick.

Beim Aufklappen spannte sich ein schattenwerfender Faden, der sogenannte Polfaden, diagonal über das geöffnete Gehäuse. Zum korrekten Ablesen mussten die beiden Hälften in einem rechten Winkel zueinander, also der Deckel mit dem Ziffernblatt senkrecht zum Boden stehen. Sie wird deshalb als Vertikalsonnenuhr bezeichnet. Dafür konnte die Uhr mithilfe eines Bolzens in diesem Winkel fixiert werden. Außerdem musste die Uhr möglichst gerade, also parallel zum Erdboden gehalten werden.

Foto: G. Jentgens; bearbeitet von D. Birmann

Das Ziffernblatt besteht aus zwei Kreisen, die parallel verlaufen und zwischen denen die Ziffern 1-12 stehen. Die Zwölf ist dabei, statt wie bei unserer Uhr oben, unten mittig zwischen den Kreisen. Die Eins steht rechts von der Zwölf und die Zahlen steigen gegen „unseren“ Uhrzeigersinn bis zur Sechs auf der rechten Seite und fangen wieder mit der Sechs auf der linken Seite an. Die beiden Sechser verbindet eine Linie, die im rechten Winkel zu dem „12 Uhr Strahl“ steht. Parallel zur Sechser-Linie verlaufen unter dem Ziffernblatt noch zwei weitere eingravierte Linien, die das Ziffernblatt optisch von den Scharnieren abtrennen.  Im oberen Teil der Gravur, mittig zwischen den Sechsern werden die Kreise durch einen kleineren Halbkreis unterbrochen, von dem Strahlen zu den Ziffern ausgehen. In diesem Halbkreis sind Verzierungen zu sehen, die an kleine Sonnen erinnern. Die Farbe des Ziffernblattes ist vom Zahn der Zeit nicht verschont geblieben. Heute ist nichts mehr von der roten Einfärbung der Gravuren sichtbar. Einige gefundene Farbpartikel deuten jedoch auf die Färbung hin.

Der Schattenwurf des Fadens auf das senkrechte Ziffernblatt war das Herzstück der Zeitmessung. Der Neigungswinkel des Fadens musste exakt dem Breitengrad des Nutzungsorts entsprechen. Die notwendige Ausrichtung in Nord-Süd-Richtung erfolgte mit Hilfe des eingebauten Kompasses. Die Dülmener Klappsonnenuhr ist für einen Breitengrad von etwa 52 Grad geeignet, genau passend für die Region, in der sie gefunden wurde. Wenn die oben genannten Voraussetzungen der Nutzung erfüllt waren, betrug die Genauigkeit der Uhr bis zu 15 Minuten. Das ist beachtlich für ein Objekt, das keine Zahnräder und keine Feder enthielt. Der klappbare Deckel war im geschlossenen Zustand mit einem Dorn am Unterteil befestigt und schützte so das empfindliche Zifferblatt. Kleine Löcher im gefundenen Deckel zeugen heute von dem Vorhandensein von Polfaden, Bolzen, Scharnieren und Dorn. Diese Konstruktion stellt eine intelligente Lösung für unterwegs dar. Weist jedoch darauf hin, dass die Mobilität der Nutzenden beschränkt war auf einen Breitengrad. Den Polfaden, konnte man nämlich wahrscheinlich nicht einem anderen Breitengrad anpassen.

Ein Kind seiner Zeit – Die Sonnenuhr zum Mitnehmen

Sie war nicht nur ein Gebrauchsgegenstand, sondern ein Prestigeobjekt. Ihr Material, feines Elefantenelfenbein, war kostbar, die Gravuren kunstvoll, mit rotem Pigment zur besseren Lesbarkeit hervorgehoben. Sie war tragbar, funktional und modisch: das Smartphone ihrer Zeit. Im Barock, der Geburtsstunde der modernen Wissenschaften, führten Astronomie, Mechanik und Mathematik zu einem Weltbild, das mit den von der Kirche bisher propagierten Vorstellungen kaum vereinbar war. Das Individuum ließ sich seinen Tagesablauf nicht mehr allein von Glocken und Kirchturmuhren diktieren, es gestaltete ihn zunehmend selbstständig, auf der Basis eigener tragbarer Zeitmesser. Die Stunde der modernen Gesellschaft hatte geschlagen.

Trotz der neuen, individuellen Handhabung von Zeit bleibt die Sonnenuhr jedoch in ihrer Abhängigkeit von der natürlichen Umgebung verhaftet. Scheint die Sonne nicht, etwa bei Regen in der Nacht, kann sie nicht abgelesen werden. Menschen waren noch immer gezwungen, mit der natürlichen Tages- und Nachtzeit zu leben. In der Nacht konnte und musste man die aktuelle Zeit wohl nicht erfahren.

Obwohl das Fundstück eines der wenigen erhaltenen Exemplare ist, erfreuten sich diese Sonnenuhren seit dem 16. Jahrhundert großer Beliebtheit und tragen so Züge eines frühen „Massenprodukts“. Im Vergleich zu den gleichzeitig aufkommenden, teuren, komplizierten mechanischen Taschenuhren, deren Ganggenauigkeit noch zu wünschen übrigließ, konnten sie viel einfacher, in größeren Stückzahlen und mit geringeren Kosten gefertigt werden. Ein solch handwerkliches Herstellungszentrum befand sich in Nürnberg, das mit seiner Kompassmacher-Gilde, der sogenannten „Compastenmacher-Ordnung“, europaweit Maßstäbe setzte. Hier entstanden sowohl schlichte Gebrauchsinstrumente aus Holz als auch aufwendig Repräsentationsobjekte, etwa aus Elfenbein, wie sie später auch Sammler und Kunstliebhaber anzogen. Es kann nicht einwandfrei geklärt werden ob die Uhr aus Nürnberg stammt, aber wenn, hat sie einen langen Weg hinter ich gebracht.

Licht ins Dunkel bringen – Die Herkunft der Uhr

Gefunden wurde der Deckel der Uhr bei Ausgrabungen 2016 im Stadtzentrum von Dülmen, nahe Münster, anlässlich eines großen Bauprojektes der Stadt. Im Zuge dieser Ausgrabung konnte mehr über die Siedlungsgeschichte Dülmens herausgefunden werden. Reste einiger mittelalterlichen Gebäude wurden ans Licht befördert. Dort, wo einst eine frühmittelalterliche Werkstatt für Beinverarbeitung stand, zwischen Messergriffrohlingen und Resten von Walrosszähnen, Rinderknochen und Hirschgeweihen lag auch die kleine Uhr. Nach ca. 400 Jahren unter der Erde, erblickte sie wieder das Licht. Ob die Sonnenuhr dort gefertigt wurde, zur Reparatur lag oder dem Handwerker selbst gehörte, bleibt unklar. Denkbar ist, dass sich in Dülmen eine kleine Werkstatt etablierte, inspiriert vom großen Vorbild Nürnberg.

Die kulturhistorische Bedeutung der Klappsonnenuhr liegt nicht nur in ihrer technischen Raffinesse und Herstellungsweise, sondern auch in ihrem kulturellen Kontext. Die Menschen begannen, ihre Tagesstruktur selbst zu bestimmen. Eine klappbare Sonnenuhr war nicht nur praktischer Begleiter, sondern auch Symbol eines neuen Zeitgefühls und eines gestiegenen Bedürfnisses nach Autonomie und Mobilität.

Im Schatten der Sonne – im Licht von Kultur

Aus kulturanthropologischer Sicht ist Zeit keine universelle Konstante, sondern eine kulturell konstruierte Ordnungskategorie. Wie wir Zeit strukturieren, messen und wahrnehmen, ist ein Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse und kollektiver Praktiken. Das Zeitverständnis wandelt sich im Laufe der Geschichte. Mit ihm verändern sich auch die gesellschaftlichen Regeln, nach denen wir leben. Mit der Verbreitung privater tragbarer Uhren beginnt im 16. Jahrhundert ein entscheidender Wandel: Die Zeit war reif für die individuelle Zeitmessung. Zeit wurde zu einem kontrollierbaren Faktor und damit zugleich zu einer Ressource und Ware. Während stationäre Sonnenuhren, beispielsweise an Kirchen, Rathäusern oder in Klosterhöfen, ein kommunales Zeitverständnis prägten, erlaubte die tragbare Variante ein individuelles Zeitmanagement. Öffentliche Uhren gaben vor allem kollektive Zeitrhythmen vor, etwa für Arbeitsbeginn, Marktzeiten oder Gebete. Besonders in städtischen Räumen, zum Beispiel bei Kaufleuten oder Handwerkern, entwickelte sich eine kleinteilige Tagesorganisation, die neue Formen der Disziplinierung und Selbstorganisation erforderte.

In diesem Wechselspiel zwischen überindividuellem Zeitregime und individueller Selbstermächtigung spiegelt sich ein kultureller Wandel wider: Zeit wird zugleich zum Mittel der Kontrolle und der Freiheit. Daraus resultiert eine feine, nahezu unsichtbare Disziplinierung, die durch Sozialisation und gesellschaftliche Normen verstärkt wird. Die genauere Zeitmessung trug zur Beschleunigung des Alltags bei, zur Verdichtung von Tätigkeiten und zur gefühlten zeitlichen Verknappung. Diese Prozesse sind bis heute spürbar: von der minutiös getakteten To-do-Liste bis zur algorithmisch gesteuerten Kalender-App auf dem Smartphone.

Ein Blick auf die Epoche der Klappsonnenuhr zeigt: Noch gab es keine einheitliche Zeitrechnung, wie wir sie heute kennen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein galten in Europa lokale Zeiten, abhängig vom jeweiligen Längengrad. Erst mit der Vereinheitlichung von Fahrplänen im Eisenbahnverkehr und der wachsenden globalen Vernetzung setzte sich das Konzept überregionaler Zeitzonen durch. Seit den 1890er-Jahren gilt in Deutschland die Mitteleuropäische Zeit (MEZ). Was uns heute selbstverständlich erscheint, ist also ein vergleichsweise junges Konstrukt, eingebettet in ein komplexes Zusammenspiel aus Technik, Raumwahrnehmung und kultureller Praxis.

Wie Wofgang Kaschuba treffend schreibt, sind Raum und Zeit „nicht per se und nicht absolut“, sondern „gebunden an kulturelle Dynamiken der Wahrnehmungskonstruktion und des Wissenserwerbs“. Die kleine Klappsonnenuhr erzählt uns deshalb weit mehr als nur die Tageszeit. Sie erzählt von Ordnung und Freiheit, Disziplinierung und Selbstbestimmung, kulturellem Wandel, Mobilität, Handwerk, Wissenschaft und der langen Geschichte unseres Umgangs mit der Zeit.

 

Tabea Burst

Praktikantin


Literatur

Birmann, Dieter. „Zeitanzeige und Ortsanalyse - Was Klapsonnenuhren aus Münster und Dülmen verraten“. Archäologie in Westfalen-Lippe 2020, herausgegeben von Birgit Münz-Vierboom und Michael M. Rind, Bd. 12, Beier und Beran, 2021.

Kaschuba, Wolfgang. Die Überwindung der Distanz: Zeit und Raum in der europäischen Moderne. Fischer Taschenbuch Verlag, 2004.

LWL-Archäologie für Westfalen, Herausgeber. 100 jahre/100 funde: Das Jubiläum der amtlichen Denkmalpflege in Westfalen-Lippe. Dr. Rudolf Habelt, 2020.

Nolde, Nadine und Hans-Werner Peine. „Von Lehrlings- und Meisterstücken - Messerherstellung im frühneuzeitlichen Dülmen“. Archäologie in Westfalen-Lippe 2017, herausgegeben von Michael M. Rind und Aurelia Dickers, Bd. 9, Beier und Beran, 2018, S. 213–17.

Schewe, Roland. „Eine Nürnberger Klappsonnenuhr von Thonias Tucher: Die besonderen Materialwertigkeiten exotischer Werkstoffe“. Jahresschrift Deutsche Gesellschaft für Chronometrie, Bd. 43, 2004, S. 153–67.

Schewe, Roland. „Fundorte von Taschensonnenuhren in Mittel- und Osteuropa: Länder und Städte - Beschreibung und Bibliografie“. Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, von Schweizerisches Nationalmuseum, Bd. 76, Nr. 1+2, 2019, S. 31–57.

Schewe, Roland und Jürg Goll. „Die Zeit in der Tasche - die älteste in Europa erhaltene hölzerne Klappsonnenuhr aus dem Kloster Müstair, Schweiz“. Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 76, Nr. 1+2, 2019, S. 5–30.