Leben retten vor 5000 Jahren? Die rätselhafte Schädeloperation von Warburg

23.06.2025 Praktikant:in

In der ersten Woche meines Praktikums bin ich bei einem besonderen Teil der Ausstellung hängen geblieben: bei den Knochen. Schon immer fand ich sie faszinierend, nicht nur, weil sie Überreste eines Menschen sind, sondern weil sie so viel über das Leben erzählen können. Knochen zeigen Spuren harter Arbeit, Krankheiten oder Verletzungen und manchmal auch medizinische Eingriffe.

Während meines Studiums habe ich mich zum Beispiel mit Milch beschäftigt, genauer gesagt, mit ihrer ursprünglichen Unverträglichkeit. Die Fähigkeit, Milch zu verdauen, kam erst durch eine Genmutation. Nachgewiesen wurde sie unter anderem in Skeletten vom mittelalterlichen Friedhof in Dalheim bei Paderborn, datiert auf etwa 1200.

Das ist nur eine kleine Randnotiz, aber sie zeigt: Knochen können sprechen. Und einer der beeindruckendsten „Sprecher“ meiner ersten Praktikumswoche stammt aus einem Grab, das über 5000 Jahre alt ist.

Abb. 1: Übersichtskarte Nordrhein-Westfalen mit Lage von Warburg: TUBS, Warburg in HX (2008). URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Warburg_in_HX.svg

Warburg – Stadt mit Geschichte

Warburg, die Hansestadt im Kreis Höxter (Abb. 1), wurde erstmals im Jahr 1036 urkundlich erwähnt und zählt damit zu den ältesten Städten Westfalens. Besonders prägend ist die mittelalterliche Doppelstadt mit Alt- und Neustadt. Wer heute durch die Stadt geht, begegnet noch den alten Bruchsteinmauern, Wehrtürmen, Stadttoren und Fachwerk- sowie Steinhäusern, die das historische Bild bewahren.

Ein echtes Wahrzeichen ist der 28 Meter hohe Sackturm, ein markanter ehemaliger Wachturm. Und wer es etwas naturnaher mag, dem bietet der Desenberg mit seiner Ruine und seinem Panoramablick eine kleine Zeitreise in vulkanische Zeiten, der Kegel selbst besteht aus freigelegtem Basaltgestein.

Fundort mit Vergangenheit: Die Gräber von Warburg

Am westlichen Stadtrand Warburgs lagen einst vier Großsteingräber aus der Jungsteinzeit. Diese wurden zwischen 1986 und 1993 systematisch untersucht. Entdeckt wurde der Fundort bei Pflugarbeiten durch den Grundeigentümer Robert Michels, als er auf ortsfremden Sandstein stieß.

Die Gräber wurden ursprünglich bei der Rodung und Kultivierung des Landes zerstört und unter dem Ackerboden begraben. Archäologen des Westfälischen Amtes für Bodendenkmalpflege förderten dort jedoch beeindruckende Funde zutage, vor allem menschliche Skelette, die Aufschluss über das Leben und Sterben der frühen Bauern und Viehzüchter geben, die vor etwa 5000 Jahren in dieser Gegend lebten.

Besonders wertvoll ist die Möglichkeit, anhand der im Boden erhaltenen Skelette Rückschlüsse auf Krankheiten und Lebensumstände dieser Menschen zu ziehen.

Was ist ein Großsteingrab?

Ein Großsteingrab, auch Megalithgrab genannt, ist eine sehr alte Grabstätte aus großen Steinen. Das Wort „Megalith“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „großer Stein“.

Diese Gräben wurden in der Gegend um Warburg zwischen 3400 und 3000 v. Chr. gebaut, also vor über 5000 Jahren, in der Jungsteinzeit. Damals benutzten Menschen riesige Steine, um Gräber für ihre Toten zu errichten. Meist standen mehrere große Steine nebeneinander, und ein besonders großer Stein wurde als Dach aufgelegt. Manchmal bedeckte man das Ganze zusätzlich mit Erde, sodass ein kleiner Hügel entstand.

Solche Großsteingräber wurden oft nicht nur für eine Person genutzt, sondern für ganze Familien oder Gemeinschaften. Die Menschen glaubten vielleicht, dass der Tod nicht das Ende ist, und wollten ihre Verstorbenen ehren und schützen.

Häufig finden sich Skelettreste und auch Keramikreste am Eingang, in der Vorkammer oder vor der Grabkammer. Aufgrund dieser Funde wird häufig eine symbolische Niederlegung von Opfergaben angenommen.

Ein besonders spannendes Beispiel ist das Großsteingrab Warburg IV. Es wurde in die Zeit zwischen 3400 und 3000 v. Chr. datiert, also mitten in die Jungsteinzeit. Dieses Grab ist nicht nur wegen seiner Bauweise interessant, sondern auch wegen eines bemerkenswerten Fundes: eine Trepanation, eine Schädelöffnung am lebenden Menschen.

Das Großsteingrab Warburg IV wurde 1991 entdeckt, nur etwa 30 Meter östlich des Grabes Warburg III, das mit seiner Länge von 32,6 Metern bereits ein Jahr später, 1992, untersucht wurde.

Leider war Warburg IV durch frühere Eingriffe in die Landschaft stark beschädigt, Teile der Grabanlage waren bis auf den Boden der Grabkammer zerstört. Dennoch gelang es den Archäologen, anhand der noch sichtbaren Gräben, in denen die großen Steinplatten ursprünglich standen, die Ausrichtung und Größe der Steinkammer zu rekonstruieren.

Abb. 2: Zeichnung des Großsteingrabes IV, Warburg. Zeichnung: H. Löwen - Museumsverein Warburg e.V. (Hrsg.), Menschen der Jungsteinzeit. Anthropologische Untersuchungen an Skelettfunden aus Warburger Gräben des ausgehenden 4. Jahrtausends v. Chr. (Warburg 1996).

Die Kammer war etwa 16 Meter lang und 2,5 Meter hoch und verlief in Nordnordost–Südsüdwest-Richtung. Im Norden ragten die Seitenwände noch etwa 1,5 Meter über das Grab hinaus, vermutlich der Eingang zur Grabkammer (Abb. 2). Die Standgräben für die Wandsteine waren direkt in den festen Kalkboden eingetieft.

Abb.3: Rekonstruktionszeichnung eines Großsteingrabes bei Warburg-Rimbeck. Zeichnung: G. Klaus, Ein Großsteingrab in der Warburge Börde bei Hohenwepel, Stadt Warburg, Kreis Höxter. Mit einem Exkurs zur Herkunft des verwendeten Gesteinsmaterials von Martin Büchner. In: B. Trier (Hrsg.), Ausgrabungen und Funde in Westfalen-Lippe 1986 (Mainz 1990) 81.

Rekonstruktionszeichnungen (Abb. 3) zeigen, wie die Anlage ausgesehen haben könnte.

 

Abb. 4: Eine Rekonstruktion eines Großsteingrabes im Oberzeuzheim in Mittelhessen, Foto: Karsten11, Hachenburg, Steinkistengrab aus Oberzeuzheim (Oberzeuzheim 2009). URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/6/63/Hachenburg%2C_Steinkistengrab_aus_Oberzeuzheim.JPG/960px-Hachenburg%2C_Steinkistengrab_aus_Oberzeuzheim.JPG.

Das in einer Abbildung gezeigte Grab in Oberzeuzheim (Mittelhessen )(Abb. 4) diente dabei als Vergleich, da es ähnlich alt ist. Doch das Außergewöhnliche ist ein menschlicher Fund, der dort gemacht wurde, und der zeigt, wie weit das medizinische Wissen schon in der Jungsteinzeit war.

Abb. 5: Trepanierter Schädel aus dem jungsteinzeitlichen Großsteingrab Warburg IV; Foto: LWL/C. Moors

Medizinisches Wunder: Die Trepanation von Warburg IV

Ein besonders faszinierender Fund aus dem Großsteingrab Warburg IV ist der Schädel eines Mannes im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Der Schädel weist eine auffällige, trapezförmige Öffnung auf, das Ergebnis einer sogenannten Trepanation, also einer gezielten chirurgischen Öffnung des Schädeldachs, die bereits in der Jungsteinzeit praktiziert wurde.

Abb. 6: Oberschrägansicht des trepanierten Schädels aus Warburg IV; Foto: LWL/C. Moors

In Abbildung 5 ist der Schädel von oben zu sehen; die trapezförmige Öffnung ist hier deutlich erkennbar im Bereich des Scheitels. Die Oberschrägansicht in Abbildung 6 verdeutlicht, dass der Schädel trotz seines hohen Alters bemerkenswert gut erhalten ist, auch wenn einige Fragmente nicht mehr passgenau anliegen. Von hinten betrachtet Abbildung 7 zeigt sich ebenfalls, dass der Schädel nahezu vollständig erhalten ist; lediglich kleinere Knochenstücke fehlen aufgrund altersbedingter Erosion und Bruchlinien.

Abb. 7: Hinteransicht des Schädels aus Warburg IV; Foto: LWL/C. Moors

Der Schädel selbst misst 18,1 cm in der Länge, 12,9 cm in der Breite und hat ein Gewicht von 329,1 g. Die Öffnung im Schädeldach, also die verheilte Trepanation, ist etwa 2 cm breit und 3 cm lang. Besonders bemerkenswert ist der gute Heilungszustand: Die Wundränder zeigen keinerlei Spuren von Entzündung oder Komplikationen.

Abb. 8: Nahaufnahme der Trepanationsstelle im Schädel aus dem Großsteingrab Warburg IV; Foto: LWL/C. Moors

Die Person hat den Eingriff überlebt. Allerdings wissen wir nicht, wie die Person die Operation überstanden hat und ob sie irgendwelche bleibenden Schäden zurückbehielt. Dass sie überlebt hat, ist für die medizinischen Fähigkeiten der damaligen Zeit aber erstaunlich.

Abb. 9: Seitliche Ansicht der Trepanationsöffnung im Schädel aus Warburg IV; Foto: LWL/C. Moors

In Abbildung 9 ist eine Aufwölbung im Bereich des Scheitels erkennbar, die durch einen gutartigen Tumor der Hirnhäute, vermutlich ein Meningeom, verursacht wurde. Genau in diesem Bereich wurde die Schädelöffnung vorgenommen. Diese gezielte, trapezförmige Einkerbung lässt sich eindeutig als chirurgischer Eingriff ansprechen, der mit großer Sorgfalt durchgeführt wurde.

Abb. 10: Oberansicht der Trepanation im Schädel aus Warburg IV; Foto: LWL/C. Moors
Abb. 11: Vergleich von Schädeln mit unterschiedlichen Trepanationen – methodisch und anatomisch.

Zur Durchführung der Trepanation standen in der Jungsteinzeit unterschiedliche Methoden zur Verfügung, etwa das Bohren, Schneiden oder Schaben. Im Fall von Warburg IV wurde vermutlich die Schabemethode oder Hohlbohrmethode angewendet (Abb. 11 , unten links bzw. oben rechts). Dabei war es überlebenswichtig, die harte Hirnhaut nicht zu verletzen, da ein Durchbruch zu einem gefährlichen Blutverlust geführt hätte. Eine Betäubung oder Desinfektion im modernen Sinne gab es nicht, dennoch zeigen sich keine Hinweise auf Infektion oder Sepsis.

Abb. 12: Künstlerische Rekonstruktion einer Trepanation in der Jungsteinzeit – mit Werkzeugen und Hilfsmitteln.

Wie eine solche Operation zwischen 3400 und 3000 v. Chr. abgelaufen sein könnte, lässt sich nur spekulativ rekonstruieren. Abbildung 12 zeigt eine zeichnerische Rekonstruktion eines jungsteinzeitlichen Eingriffs. Vielleicht hielten mehrere Personen den Patienten ruhig, während ein erfahrener Spezialist mit einem scharfkantigen Stein oder Werkzeug vorsichtig die Schädelöffnung vornahm. Ob es damals bereits definierte Rollen, überlieferte Handgriffe oder festgelegte Werkzeuge gab, ist nicht bekannt, doch die hohe Präzision des Eingriffs spricht eindeutig für Fachwissen und Erfahrung.

Der Grund für die Operation könnte der Tumor gewesen sein. Trepanationen wurden aber auch bei schweren Kopfverletzungen, erhöhtem Hirndruck oder chronischen Kopfschmerzen vorgenommen. Da in dem Grab zwischen 70 und 80 Personen bestattet wurden und die älteren Knochen dabei nach und nach zur Seite geräumt wurden, wissen wir nicht welche Knochen zu dem Schädel gehören. Daher lassen sich leider keine weiteren krankheitsbezogenen oder anthropologischen Aussagen zur betroffenen Person treffen.

Der Schädel aus Warburg IV ist ein außergewöhnliches Zeugnis jungsteinzeitlicher Heilkunde. Die durchgeführte Trepanation steht exemplarisch für ein erstaunlich frühes Verständnis chirurgischer Eingriffe, verbunden mit Mut, Erfahrung und dem Ziel, das Leben des Patienten zu retten. Dies geschah trotz der enormen Risiken, etwa durch Infektionen, Blutverlust oder fehlende Betäubungsmöglichkeiten.

Bei dem Tumor handelte es sich vermutlich um ein Meningeom, einen gutartigen Tumor der Hirnhäute, der durch sein Wachstum Druck auf das Gehirn ausüben konnte. Mögliche Symptome sind Kopfschmerzen, Sehstörungen oder Lähmungen. Dass der Patient den Eingriff überlebte, ist medizinisch wie kulturell von großer Bedeutung und macht diesen Fund zu einem der eindrucksvollsten Belege prähistorischer Medizin in Mitteleuropa.

Persönliche Reflexion

Was mich an diesem Fund so bewegt, ist die Verbindung zwischen uraltem Leben und moderner Wissenschaft. Dass schon vor 5000 Jahren jemand die Entscheidung traf, einen gefährlichen Eingriff zu wagen, in der Hoffnung, zu helfen, das berührt mich tief.

Es zeigt, dass Empathie, medizinisches Denken und vielleicht sogar Hoffnung auf Heilung keine Erfindungen der Neuzeit sind, sondern uralte menschliche Konstanten.

 

Yasemin Polat (Praktikantin)


Literaturverweise:

- Hansestadt Warburg (Hrsg.), Stadtportrait (Warburg o. D.). URL: https://www.warburg.de/B%C3%BCrger/Stadtportrait/#:~:text=Die%20Hansestadt%20Warburg%2C%201036%20erstmals,wie%20historische%20Fachwerk%2D%20und%20Steinh%C3%A4user.

- H. Löwen, Museumsverein Warburg e.V. (Hrsg.), Menschen der Jungsteinzeit. Anthropologische Untersuchungen an Skelettfunden aus Warburger Gräben des ausgehenden 4. Jahrtausends v. Chr. (Warburg 1996).

- J. Wahl, Karies, Kampf & Schädelkult. 150 Jahre anthropologische Forschung in Südwestdeutschland. Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 79. (Stuttgart 2007).

- LWL-MAK Herne Archiv. (Herne 2020).

 

Abbildungsverzeichnis:

- TUBS, Warburg in HX (2008). URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Warburg_in_HX.svg

- H. Löwen - Museumsverein Warburg e.V. (Hrsg.), Menschen der Jungsteinzeit. Anthropologische Untersuchungen an Skelettfunden aus Warburger Gräben des ausgehenden 4. Jahrtausends v. Chr. (Warburg 1996).

- G. Klaus, Ein Großsteingrab in der Warburge Börde bei Hohenwepel, Stadt Warburg, Kreis Höxter. Mit einem Exkurs zur Herkunft des verwendeten Gesteinsmaterials von Martin Büchner. In: B. Trier (Hrsg.), Ausgrabungen und Funde in Westfalen-Lippe 1986 (Mainz 1990) 65-104.

Karsten11, Hachenburg, Steinkistengrab aus Oberzeuzheim (Oberzeuzheim 2009). URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/6/63/Hachenburg%2C_Steinkistengrab_aus_Oberzeuzheim.JPG/960px-Hachenburg%2C_Steinkistengrab_aus_Oberzeuzheim.JPG.

- J. Wahl, Karies, Kampf & Schädelkult. 150 Jahre anthropologische Forschung in Südwestdeutschland. Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 79. (Stuttgart 2007).

- LWL/Cornelia Moors (LWL-MAK Herne 2020).