Zwischen Angst und Hoffnung – Der Natternbaum mit Stammbaum Christi

02.10.2025 Praktikant:in

Der Natternbaum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ist ein Objekt, das gleich mehrere Geschichten in sich vereint. Er verbindet religiöse Symbolik, frühneuzeitlichen Wunderglauben und die Faszination für Naturwunder in einem einzigen Kunstwerk und erzählt damit von den Hoffnungen und Ängsten einer vergangenen Epoche.

Abb. 1 Der Dresdner Natternbaum (Bildautor: Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden / P. Kuchel)

Der Natternbaum im Detail

Der Natternbaum, um 1470 entstanden, ist rund 20 Zentimeter hoch, aus Silber gearbeitet und teilweise vergoldet. Zwischen seinen filigranen Ästen, die mit fossilen Haizähnen geschmückt sind, thront in der Krone Maria mit dem Jesuskind. Am Fuß des Baumes schläft Jesse, der alttestamentliche Stammvater Christi. Aus ihm wächst der Stammbaum Jesu empor, eine im Mittelalter weit verbreitete Bildformel, bekannt als die „Wurzel Jesse“. Auf der Rückseite kriecht ein kleiner Drache aus einer Höhle, ein Sinnbild für Gefahr und Bedrohung. Zwischen den Blättern hängen sechs Zähne, die man damals für die Zungen von Nattern (= Drachen) hielt. Tatsächlich handelt es sich um versteinerte Haizähne, darunter sogar ein gewaltiger Zahn eines ausgestorbenen Megalodon. Dieser befindet sich schützend hinter Maria und ihrem Kind.

Abb. 2 Detailaufnahme Maria mit dem Jesuskind (Bildautor: Fiona Bolte)
Abb. 3 Aufnahme des Drachens (Bildautor: Fiona Bolte)

Wenn Fossilien zu Schutzzaubern werden

Die fossilen Zähne sind weit mehr als Zierde. In der Vormoderne schrieb man ihnen erstaunliche Kräfte zu. Sie sollten vor Gift warnen, indem sie ihre Farbe verändern und schwitzen, sobald eine Vergiftung drohte. Diese Vorstellung war keineswegs aus der Luft gegriffen. In der höfischen Kultur Europas war Giftmord eine reale Bedrohung. Solche Objekte zum Schutz wie der Natternbaum wurden auf Kredenztischen neben der Tafel platziert. Sie sollten also den Speisenden Schutz vor Gift während der Mahlzeit bieten. Zufällige Beobachtungen solcher Veränderungen der Zähne verliehen dieser Vorstellung zusätzliche Plausibilität, da die überwiegend aus Apatit bestehenden Haifischzähne tatsächlich mit verschiedenen Stoffen reagieren können. Natürlich war das keine zuverlässige Methode, doch für die Menschen damals reichte schon der Glaube an eine mögliche Wirkung und so verband sich die Schutzmagie mit dem repräsentativen Prunk.

Die unsichtbare Waffe: Gift im Mittelalter

Im Mittelalter war die Angst vor Gift allgegenwärtig. Gerade an Fürstenhöfen, wo Machtkämpfe und Intrigen an der Tagesordnung waren, galt Giftmord nicht nur als dunkle Vorstellung, sondern als reale Gefahr. Herrscher und Fürsten fürchteten nicht nur das Schwert des Gegners, sondern auch den unsichtbaren Tod im Becher Wein oder im festlichen Braten. Die Zeitgenossen beschrieben Gift als eine heimliche Gewalt. Es machte keinen Lärm, hinterließ keine sichtbaren Wunden und konnte wie eine Krankheit aussehen. Besonders im 14. Jahrhundert häuften sich die Verdächtigungen von Vergiftungen. Viele waren wahrscheinlich nur Gerüchte, doch sie prägten die Atmosphäre an den Höfen. Nicht zufällig entstand damals eine Fülle von Schriften über Gifte und Gegenmittel.

Christliche Symbolik

Besonders eindrucksvoll ist die christliche Bildersprache des Natternbaums. Aus dem schlafenden Stammvater Jesse wächst der Baum, der über Maria zur Geburt Christi führt. Dies ist eine anschauliche Umsetzung der „Wurzel Jesse“. Der Natternbaum verkörpert die Heilsgeschichte mit ihren Bildern von Hoffnung, Erlösung und göttlichem Schutz. Zeitgleich spiegelt sich das Alltagsleben in der Angst vor Vergiftungen und dem Glauben an die schützende Kraft seltener Naturmaterialien wider. Für die Menschen damals war das kein Widerspruch, sondern eine doppelte Versicherung geschützt zu werden – himmlisch wie irdisch.

Abb. 4 Stammvater Jesse (Bildautor: Fiona Bolte)

Reise durch die Jahrhunderte

Die Herkunft des Exemplars lässt sich nicht genau nachvollziehen. Vermutlich stammt der Natternbaum wohl aus dem süddeutschen Raum. 1581 befand er sich in der Silberkammer des Kurfürst Augusts von Sachsen. 1640 ist er in der Kunstkammer Dresden verzeichnet. Im 19. Jahrhundert wechselte der Natternbaum mehrfach den Besitzer und wurde umgestaltet, bevor er 1876 ins Grüne Gewölbe Dresden zurückkehrte. Sein ursprüngliches Erscheinungsbild war komplexer und fantasievoller. In den Inventaren der Dresdner Kunstkammer des 17. Jahrhunderts wird von Korallenzinken berichtet, die sich wie ein schützendes Geäst um den silbernen Baum legten. Besonders eindrucksvoll war auch die Darstellung des Jesse. Aus einem Loch in seiner Brust wuchs der Baum direkt empor. Ein starkes Bild für die Verbindung von Altem und Neuem Testament. Der jetzige Fuß des Jesse wirkt unten wie abgeschnitten und die ursprüngliche Öffnung in Jesses Herz ist durch eine sternförmige Verzierung verdeckt. Der Baum erhebt sich nun aus einem silbernen Felsenhügel, dessen unregelmäßige Form und eingeritzte Muster ihm das Aussehen einer geheimnisvollen Landschaft verleihen. Von der ursprünglichen Vielfalt der Natternbäume zeugen auch zwei weitere Stücke in Wien. Ein schlichteres Exemplar befindet sich im Kunsthistorischen Museum mit einem Citrin als Abschluss sowie ein älteres, stark verändertes Stück in der Schatzkammer des Deutschen Ordens, das mit einem Salzfass und Korallen kombiniert wurde. Der Dresdner Natternbaum bleibt jedoch in seiner Verbindung von Prunk, religiöser Symbolik und Wunderglauben einzigartig.

Ein Spiegel menschlicher Ängste

Der Natternbaum ist ein Objekt, das bis heute fasziniert. Vielleicht, weil er von einer universalen menschlichen Angst erzählt, der Angst vor unsichtbarer Gefahr, vor Gift, Krankheit, Verrat. All dem trat man mit Kunst, religiösem Glauben und Naturwundern entgegen. Und somit ist der Natternbaum nicht nur ein prunkvolles Kunstwerk aus Silber, sondern ein Zeuge mittelalterlicher Denkweisen, in denen Wissenschaft, Religion, Aberglauben und Alltagsängste noch untrennbar ineinandergriffen.

 

Fiona Bolte / Praktikantin


Literatur

U. Weinhold - T. Witting, Goldschmiedekunst im Grünen Gewölbe, Bd. 3, 1044-1050 (Dresden 2024)

F. Collard, Gifteinsatz und politische Gewalt. Die Semantik der Gewalt mit Gift in der politischen Kultur des späten Mittelalters, in: Vorträge und Forschungen 80, 319-344 (Paris 2015)

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden / P. Kuchel

Abb. 2: Fiona Bolte

Abb. 3: Fiona Bolte

Abb. 4: Fiona Bolte