Ein Eber und eine Steirerin im Archäologiemuseum

23.09.2022 Praktikant:in

Abb. 1 Eberstatuette aus Erwitte (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/S. Brentführer)

Eine Steirerin kommt in den Ruhrpott

Den eingefleischten Fans dieses Blogs ist er bereits wohlbekannt: der Praktikantenbeitrag zu einem Lieblingsobjekt aus der Ausstellung. Nun bin ich wohl keine typische Praktikantin im Archäologiemuseum Herne, denn ich habe für diese Lernerfahrung einen etwas längeren Weg hinter mich gebracht. Tatsächlich studiere und lebe ich in Graz (Österreich). Im Laufe meines Praktikums haben mich zahlreiche Menschen gefragt, weshalb ich ausgerechnet nach Herne gekommen bin. Für mich gab es allerdings nicht nur einen einzigen ausschlaggebenden Grund, sondern meine Motivation ist vielfältig. Zum einen wollte ich Erfahrung im Museumsbereich erlangen. Dieses Museum sollte sich auf Archäologie konzentrieren und eine gewisse Größe haben, um die komplexen Strukturen eines solchen Betriebs kennenzulernen. Ich suchte außerdem nach einem modernen Ort, der sich nicht nur mit der Vergangenheit befasst, sondern den Besucher:innen eine Verbindung zu gegenwärtigen Themen wie Migration, Digitalisierung und Nachhaltigkeit bietet. Projekte wie „Your Story Matters“ und „Blackbox“ sprachen mich daher sofort an. Aber nicht nur das Museum selbst hat mich hierhergelockt, sondern auch die geographische Lage. Das Ruhrgebiet ist völlig anders, als alles, was ich aus Österreich kenne. Die Geschichte dieses Industriegebietes ist faszinierend und bietet allerhand Möglichkeiten neue Dinge kennenzulernen. Ich sah in dieser Reise auch die Chance Städte zu besuchen, die von meinem Heimatort weit entfernt sind. So machte ich zum Beispiel Ausflüge nach Köln, Aachen und Amsterdam und konnte dadurch viel über die dort einheimische Kunst und Kultur erfahren. Sie sehen also: Es gab für mich nicht nur einen Grund, weshalb ich in diese Region kommen wollte.

Abb. 2 Eberstatuette aus Erwitte im Originalszustand (Foto: Westfälisches Museum für Archäologie/S. Brentführer/Baales – Schubert 2005, 361.)

Der Eber von Erwitte

Vermutlich fragen Sie sich jetzt, weshalb ich Ihnen all das erzähle, wo es doch eigentlich um mein Lieblingsobjekt gehen sollte. Der Grund hierfür ist, dass das von mir ausgewählte Exponat ebenfalls einen weiten Weg zurückgelegt hat, bis es schließlich in diesem Museum landete. Es handelt sich um eine Bronzestatuette in Form eines Ebers. Das Objekt ist mit einer Höhe von 7 cm, einer Länge von 8,8 cm und einer Breite von 2,8 cm relativ klein. Der Heimatforscher Fritz Dietz fand die Figur 2002 im westfälischen Erwitte, das sich in der klimatisch günstigen und fruchtbaren Hellwegzone befindet. Diese Gegend ist seit dem Frühneolithikum (ca. 5500 – 4900 v. Chr.) kontinuierlich besiedelt und ungefähr ab dem 6. Jh. v. Chr. nutzte man dort Solequellen zur Salzgewinnung.

Abb. 3 Digitale Rekonstruktion der Eberstatuette aus Erwitte vor Auffindung des fehlenden Teils (Foto: E. Schubert/Baales – Schubert 2005, 359.)

Die Statuette war zum Zeitpunkt ihrer Auffindung in keinem guten Zustand. Die Oberfläche ist unterschiedlich stark verwittert und es fehlten die Ohren sowie der Rücken des Ebers. Dennoch konnte man ihn mit Hilfe stilistischer Vergleiche in die Zeit zwischen dem 2. und 1. Jh. v. Chr. datieren und dem Ostlatèneraum zuordnen. Man ging sogar so weit, Vergleichsstücke im Raum Südfrankreich und Süddeutschland als Vorbild zu nehmen und rekonstruierte einen einfach gehaltenen Rücken mit niedrigem abgesetzten Rückenkamm. Im Jahr 2005 geschah jedoch etwas Erstaunliches: Fritz Dietz fand auf demselben Acker den fehlenden Teil des Ebers. Dies brachte den Archäolog:innen neue Erkenntnisse, denn im Gegensatz zur Rekonstruktion hatte er einen hoch aufragenden, mehrfach durchbrochenen Rückenkamm. Somit war klar, dass der Eber nicht aus Frankreich stammt, sondern aus dem Gebiet zwischen Bayern und Westungarn. Es wäre also durchaus möglich, dass der Eber und ich das gleiche Herkunftsland haben.

Abb. 4 Eberstatuette aus Erwitte im derzeitigen Zustand (Foto: LWL-Museum für Archäologie Herne/C. Moors)

Die Latènekultur und was Eber damit zu tun haben

Unter Latènekultur versteht man einen künstlichen Kulturbegriff, der von Archäolog:innen verwendet wird, um Funde der späten Eisenzeit (5. – 1. Jh. v. Chr.), die räumlich und stilistisch miteinander in Verbindung stehen, zu kategorisieren. Vermutlich lebten die Menschen damals in vielen verschiedenen Verbänden, die keine politische oder ethnische Einheit bildeten und sich selbst auch nicht als eine einzige miteinander verbundene Kultur verstanden. Nichtsdestotrotz zeugen die materiellen Hinterlassenschaften dieser Menschen von Gemeinsamkeiten in Kunst und Handwerk sowie vermutlich auch in Religion und Sprache. Daher macht es Sinn sie als Hilfsmittel zu einer Gruppe zusammenzufassen. Wie aber auch das Beispiel der Eberstatuette zeigt, kann es je nach Region und Zeit zu Besonderheiten kommen, was innerhalb der Latènekultur wiederum eine genauere Einordnung ermöglicht. Im Vergleich dazu wurde die westfälische Bevölkerung, die zur selben Zeit lebte, bislang keiner archäologischen Kultur zugeordnet, was eine differenziertere Betrachtung ermöglicht.

Abb. 5 Stilisierter Wildschweinkopf der Carnyx von Tintignac, Département Corrèze, 2./1. Jh. v. Chr. (Foto: Claude Valette /Wikimedia Commons)

Unter den Fundstücken der Latènekultur wurden verschiedenste Tierfiguren aus Bronze hergestellt, wobei die Eberform die größte Fundgruppe darstellt. Die Eber standen in diesem Zusammenhang wohl für Kraft, Wildheit und Stärke. Sie verkörperten die kriegerische Welt, weshalb ihre Abbildungen teilweise in Form von Schlagmarken auf Schwertern und als Helmzier zu finden sind. Auch die Carnyces genannten Kriegstrompeten wurden mit Eberköpfen verziert. Der Eber ist auch immer wieder auf Münzen dieser Zeit dargestellt, was auf eine allgemein große Symbolkraft hindeutet. Außerdem wird er auch mit dem Stammes- und Kriegsgott Teutates in Verbindung gebracht.

Kultureller Austausch

Für die Archäologie sind Funde wie die Eberstatuette dahingehend wichtig, weil sie Aufschlüsse über die Kontakte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und kulturellen Einheiten in der Vergangenheit liefern. Dieser Eber ist keine völlige Ausnahme, denn man fand in der Hellwegzone beispielweise auch Glasarmringe und Münzen der Latènekultur. Das deutet darauf hin, dass zwischen der dort ansässigen Bevölkerung und gewisser Latène-Stämme irgendeine Form von Kontakt bestand. Im Vergleich zum Gesamtverhältnis der eisenzeitlichen Funde in diesem Raum, ist die Menge an importierten latènezeitlichen Objekten so gering, dass enge wirtschaftliche Aktivitäten zwischen diesen Regionen unwahrscheinlich sind. Die Fundstücke gehen vermutlich eher auf die Mobilität einzelner Personen zurück und verblieben durch Tausch, Verlust oder als Geschenke in Westfalen. Der oder die Inhaber:in der Statuette könnte eventuell ein:e Händler:in, Krieger:in oder Prospektor:in gewesen sein, aber leider sind die Anlässe für Austausch und Mobilität aus heutiger Sicht nicht mehr rekonstruierbar und man kann nur Vermutungen aufstellen. Wie auch ich nicht „nur“ für ein Praktikum nach Herne kam, ist auch für vergangene Kulturen vorstellbar, dass bestimmte Personen nicht nur aus einem einzigen Grund in eine andere Region reisten, sondern dass auch deren Motivation vielseitig war.

Teresa Vondrak, Praktikantin

 

Literatur

Michael Baales – Anna Helena Schubert, Ein keltischer Eber in Westfalen. Glücksbringer oder Beschützer? In: Heinz Günther Horn u.a. (Hrsg.), Von Anfang an. Archäologie in Nordrhein-Westfalen. Ausstellungskatalog Köln, Herne. Schriften zur Bodendenkmalpflege in Nordrhein-Westfalen 8 (Mainz 2005) 359-–361.

Torsten Capelle, Bronzene Eberfigur. In: LWL-Museum für Archäologie/Westfälisches Landesmuseum Herne (Hrsg.), Wildes Westfalen. Tierische Fotos und Funde, Ausstellungskatalog Herne (Herne 2015) 36-37.

Birte Reepen, Fremdeinflüsse in der Eisenzeit Westfalens, Universitätsforschungen zur Prähistorischen Archäologie 284 (Bonn 2016)

Sabine Rieckhoff, Spurensuche. Kelten oder was man darunter versteht… In: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg/Landesmuseum Württemberg/Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart (Hrsg.), Die Welt der Kelten. Zentren der Macht – Kostbarkeiten der Kunst, Ausstellungskatalog Konstanz (Ostfildern 2012) 26-36.

Manuel Zeiler, Gleich zweimal Schwein gehabt. Ein keltischer Eber in Westfalen. In: LWL-Archäologie für Westfalen (Hrsg.), 100 Jahre / 100 Funde. Das Jubiläum der amtlichen Bodendenkmalpflege in Wesfalen-Lippe (Darmstadt 2020) 136-137.

Manuel Zeiler – Eva Cichy – Michael Baales, Die Vorrömische Eisenzeit in Südwestfalen. Eine Übersicht zum aktuellen Forschungsstand. In: Hans-Otto Pollmann (Hrsg.), Archäologische Rückblicke. Festschrift Daniel Bérenger. Universitätsforschungen zur Prähistorischen Archäologie 254 (Münster 2014) 91–125.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: LWL-Archäologie für Westfalen/S. Brentführer

Abb. 2: Westfälisches Museum für Archäologie/S. Brentführer/Michael Baales – Anna Helena Schubert, Ein keltischer Eber in Westfalen. Glücksbringer oder Beschützer? In: Heinz Günther Horn u.a. (Hrsg.), Von Anfang an. Archäologie in Nordrhein-Westfalen. Ausstellungskatalog Köln, Herne. Schriften zur Bodendenkmalpflege in Nordrhein-Westfalen 8 (Mainz 2005), 361

Abb. 3: E. Schubert/Michael Baales – Anna Helena Schubert, Ein keltischer Eber in Westfalen. Glücksbringer oder Beschützer? In: Heinz Günther Horn u.a. (Hrsg.), Von Anfang an. Archäologie in Nordrhein-Westfalen. Ausstellungskatalog Köln, Herne. Schriften zur Bodendenkmalpflege in Nordrhein-Westfalen 8 (Mainz 2005), 359.

Abb. 4: LWL-Museum für Archäologie Herne/C. Moors

Abb. 5: Claude Valette /Wikimedia Commons, <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:CarnyxDeTintignac2.jpg> (letzter Zugriff: 08.09.2022)