Ein frühmittelalterlicher Schreibgriffel aus Vreden

16.09.2022 Praktikant:in

Ausgestellte Schreibgriffel im LWL-Museum für Archäologie. Bei dem ersten Griffel von links handelt es sich um besagten Schreibgriffel aus Vreden. Foto: Tamara Adehor

Ein frühmittelalterlicher Schreibgriffel aus Vreden

Der Grund für die Wahl meines Exponats

Wie viele Praktikant:innen vor mir durfte auch ich mir während meines sechswöchigen studentischen Praktikums ein Lieblingsexponat aussuchen, um es für unseren Blog näher zu beschreiben. Die Auswahl fiel mir anfangs schwer, da das Museum für Archäologie in Herne viele Exponate in der Dauerausstellung hat, für die es sich lohnt einen eigenen Beitrag zu verfassen. Warum habe ich mich also ausgerechnet für den Vredener Schreibgriffel entschieden? In der Rückschau betrachtet hatte meine Wahl wohl einiges mit meinem generellen Interesse an der Schrift und am Schreiben zu tun. Da ich im Zweitfach Germanistik studiere bin ich wohl generell empfänglich für alles, was sich thematisch mit der Sprache befasst – so auch die Vermittlung von Sprache in Form von Schriftlichkeit. Das schlichte Äußere des Vredener Griffels, seine Größe und der relativ gute Erhaltungszustand haben darüber hinaus dazu beigetragen, dass ich mich letztendlich für dieses Exponat entschied.

Nahaufnahme des Vredener Schreibgriffels, Foto: Cornelia Moors

Ein unscheinbares Werkzeug von großer Bedeutung

Der bronzene Schreibgriffel aus Vreden lässt sich auf das erste Drittel des neunten Jahrhunderts datieren. Gefunden wurde das frühmittelalterliche Schreibgerät bei Ausgrabungen, die im Auftrag für das Museum für Vor- und Frühgeschichte zwischen 1949 und 1951 durchgeführt wurden. Der Vredener Schreibgriffel zählt dabei zu den ältesten Fundstücken dieser Ausgrabungsreihe. Geborgen wurde das Fundstück aus den Überresten der ehemaligen Kirche des Damenstifts Vreden. Der Überlieferung nach wurde eben diese Stiftskirche auf Anlass eines sächsischen Grafen Walbert zu Beginn des 9. Jahrhunderts gegründet und bestand in ihrer Funktion als Damenstift bis ca. 1810.

Zur Form: der aus Bronze gegossene Schreibgriffel (Länge 9,8 cm) weist einen im Querschnitt runden, im oberen Bereich mit schlichten Linien verzierten Schaft auf. Sein oberes Kopfende ist spachtelförmig ausgestaltet. Die Breite des Kopfendes beträgt 1,6 cm. Farblich hebt sich der Griffel von den anderen, die im Herner Archäologiemuseum ausgestellt sind, durch seinen dunklen Farbton hervor.

Über das Aussehen und die Funktion von Schreibgriffeln wie der aus Vreden wissen wir neben den Bodenfunden auch durch Schrift- und Bildquellen. Besonders gut kommt die Verwendung der Griffel in Bildern aus dem (Früh-)Mittelalter zum Ausdruck. Sie zeigen häufig, wie mittelalterliche Schreiber:innen mit einem Griffel auf Wachstafeln schrieben. Die Funde bzw. Quellen bezeugen auch, dass sich in dem generellen Aussehen der Schreibgriffel größtenteils nicht viel verändert hat. Spachtel und Schaft blieben über die Jahrhunderte hinweg wesentliche Bestandteile der Griffel. Allein beim Material gibt es Abweichungen. Sowohl diverse Metalle wie etwa Bronze als auch Knochen und Schiefer wurden bei der Herstellung der Griffel  verwendet.

Auszug aus dem Buch Genesis, Bild: Wikimedia Commons

Der Zusammenhang zwischen Christianisierung und Schriftlichkeit im Frühmittelalter

Mit dem Beginn des 9. Jahrhunderts setzte im Gebiet des heutigen Westfalens ein Kulturwandel ein. Auslöser war die allmähliche Christianisierung, die auf nahezu alle Lebensbereiche der Menschen Einfluss nahm. Im Zuge der Verbreitung des christlichen Glaubens entstanden im Land neue Kirchen und Klöster – Sitz der Geistlichen und Orte des Wissens. Wichtig in diesem Zusammenhang war vor allem ein neues Medium, welches die Verbreitung der christlichen Lehre durch die Priester und Mönche unterstützen sollte: die Schrift. Speziell die archäologischen Funde von Schreibgriffeln, Schreibtafeln und anderen Schreibutensilien zeugen von der zunehmenden Wichtigkeit des Schreibens in Westfalen, aber auch andernorts.

Da es sich bei dem Christentum um eine sogenannte Buchreligion handelt ist Schriftlichkeit essenziell. Buchreligionen besitzen eine Heilige Schrift und orientieren sich dementsprechend an Texten. Die Verbreitung des Glaubens im Zuge der Christianisierung musste also vorrangig unter Rückbezug auf Schriftzeugnisse der Bibel stattfinden. Schriftlichkeit wiederum war insofern von Bedeutung für die Kirche, da sie die einheitliche Verbreitung liturgischer Schriften im ganzen Land gewährleistete. Nur durch dieselbe schriftlich fixierte Liturgie konnte überall ein einheitlicher Messeablauf garantiert werden. Um kirchliches Schriftgut verbreiten zu können, benötigte man einerseits Schreiber, andererseits spezialisierte Handwerker, die sich mit der Herstellung der Schreibmaterialien auskannten.

Darstellung von schreibenden Mönchen, Foto: Wikimedia Commons

Schreiben im Mittelalter – Wer konnte es?

Die Fähigkeit des Schreibens und Lesens breitete sich im Mittelalter nur langsam in breite Schichten der Bevölkerung aus. Vor allem im neunten Jahrhundert war die Fähigkeit nur auf den kleinen Kreis des Klerus beschränkt. Die einfache Bevölkerung hatte keinen bzw. wenn überhaupt nur einen erschwerten Weg was den Zugang zur Schrift betraf. Das hing vor allem damit zusammen, dass es kein flächendeckend ausgebautes Netz an Elementarschulen gab, in denen Kinder lesen, schreiben und rechnen lernen konnten. Im Frühmittelalter herrschte noch kein Bedarf an diesem Zweig, zumindest nicht für die einfache Bevölkerung. Das Leben in einem überschaubaren Umfeld, wie z.B. in einem Dorf, erforderte nicht notwendigerweise die Schrift. Die direkte mündliche Kommunikation untereinander war um einiges vorteilhafter.  Die Schicht, die hingegen tagtäglich mit dem Medium der Schrift in Kontakt kam war der Klerus. Das Verfassen religiöser Texte und die sorgfältige Vervielfältigung der heiligen Schrift waren Hauptbereiche in denen Schriftlichkeit eingesetzt wurde. Zum anderen war ein weiteres schrift- und schreibgeprägtes Gebiet im Mittelalter die Administration.

Wie funktionierte das Schreiben mit einem Griffel?

Schreiben im Mittelalter war ein spezialisiertes Handwerk, welches vorwiegend in den mittelalterlichen Schreibwerkstätten der zahlreichen Klöster ausgeübt wurde. Die benötigten Fertigkeiten wie etwa das Gelingen der gleichmäßigen Form der Buchstaben, die Herstellung der benötigten Schreibutensilien, die Vorzeichnung des Seitenspiegels oder das Anrühren der Tinten wurden allesamt von erfahrenen Schreiber:innen an die Schreiberlehrlinge weitergegeben. Die Schreiber:innen waren bei ihrer Arbeit den meist harten Arbeitsbedingungen ausgesetzt: unbeheizte Schreibstuben, schlechte Lichtverhältnisse und eine ergonomisch unvorteilhafte Haltung, die vor allem dem präzisen Schreiben und der damit verbundenen gebückten Haltung geschuldet war.

Sicherlich kommt die Frage auf, wie genau das Schreiben mit einem solchen Griffel funktioniert hat. Immerhin hat das Schreibgerät in gewisser Hinsicht eher Ähnlichkeit mit einer Stricknadel als mit einem neuzeitlichen Kugelschreiber. Die Funktionsweise ist simpel. Um rasch Notizen aufschreiben zu können benötigten die mittelalterlichen Schreiber:innen zunächst eine mit Wachs beschichtete Tafel, die meist aus Holz oder Ton bestand. Mit dem Griffel konnten Buchstaben oder Zahlen in das nachgiebige Wachs eingeritzt bzw. -gedrückt werden. Das Praktische an solchen Wachstäfelchen war die Möglichkeit mit dem spachtelförmigen Ende des Griffel Geschriebenes einfach wieder zu löschen, indem die Schreiber:innen die Wachsoberfläche mit dem Spachtel glätteten. Der Schreibuntergrund war dadurch für weitere Notizen frei und konnte wiederverwendet werden. Wichtige Dokumente wie z.B. Verträge oder kirchliche Schriften wurden auf kostbares Pergament geschrieben, dafür wurden meist Federkiel und Tinte genutzt. Ebenfalls zum Einsatz kamen Griffel, wie der aus dem Damenstift Vreden, bei der Einzeichnung von sogenannten Blindlinien auf Pergament oder Papier. Diese farblosen Vertiefungen, die durch leichte Druckausübung der Griffelspitze auf dem Schreibuntergrund entstehen, waren besonders bei der Kopie von bestimmten Text- und Bildelementen hilfreich. Im Laufe der Zeit wurde der gewöhnliche Griffel und das Wachstäfelchen aber durch Papier, Schiefertafel und –griffel verdrängt.

Wie wird das Exponat in der Ausstellung präsentiert?

Was meine Aufmerksamkeit auf den Ausstellungsbereich zum Thema Lesen und Schreiben im Mittelalter lenkte, in der sich unter anderem auch der Vredener Schreibgriffel befindet, war vor allem die Präsentation der Objekte. Rein optisch weisen die Ausstellungsvitrinen in diesem Bereich Ähnlichkeit mit den Schreibpulten auf, an denen im Mittelalter geschrieben und gelesen wurde. Innerhalb dieser Schreibpult-Vitrinen befinden sich neben den verschiedenen Griffeln unter anderem auch kunstvoll verzierte Pergamentstücke und sonstige archäologische Funde zum Thema Schreiben und Lesen. Wie ich finde, ist diese Tatsache, die dem Museumsbesucher eventuell erst auf den zweiten Blick auffallen mag, ein sehr treffender inhaltlicher Bezug. Meine Aufmerksamkeit war sofort auf die Ausstellungsstücke dieses Bereiches gelenkt, denn sie spiegeln durch die gewählte Präsentationsform, zumindest in Ansätzen, den Arbeitsort der mittelalterlichen Gelehrten wider. Ausgestattet mit Schreibgriffel oder Federkiel und Tinte sowie einem Stück Pergament kauerten die Schreiber:innen über einem solchem Schreibpult und verfassten ihre Abschriften. Ringsherum saßen oder standen weitere Schreiber:innen und taten es ihm bzw. ihr nach. Diesen Eindruck vermittelt u.a. auch die Gestaltung dieses konkreten Ausstellungsbereiches im Herner Archäologiemuseum. Wer den Vredener Schreibgriffel und die anderen Exponate selbst einmal „live“ erleben möchte, sollte sich die Dauerausstellung also nicht entgehen lassen – es lohnt sich!

Foto der Ausstellungsvitrinen in denen u.a. der Schreibgriffel aus Vreden präsentiert wird. Foto: Cornelia Moors

Literaturverzeichnis

Müller, Harald: Mittelalter, Akademie Verlag, Berlin 2008.

Peine, Hans-Werner: Schriftlichkeit und Sakralkultur. Bodenfunde aus Schreibstuben, Bibliotheken und Kirchenschätzen in Westfalen, in: Peine, Hans-Werner/Terhalle, Hermann: Stift – Stadt – Land. Vreden im Spiegel der Archäologie, Vreden 2005.

Lexikon des Mittelalters Band VII, Artemis Verlag, München 1980.

Links

https://www.vreden.de/publish/viewfull.cfm?objectid=f3f54be6_e081_515d_748e62271d7a48b3 (Letzter Abruf: 23.08.2022)

https://www.kunsthalle-karlsruhe.de/glossar/blindlinie/ (Letzter Abruf: 31.08.2022)

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Tamara Adehor, LWL-Archäologie

Abb. 2: Cornelia Moors, LWL-Archäologie

Abb. 3: Wikimedia Commons, Link:  https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Initial_I_from_MS_107_(Getty_museum)_-_Abbey_Bible,_FOL_4.jpg (Letzter Abruf: 07.09.22)

Abb. 4: Wikimedia Commons, Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Libro_de_los_juegos.jpg. (Letzter Abruf: 08.09.2022)

Abb. 5: Cornelia Moors, LWL-Archäologie

Abb. 6: Cornelia Moors, LWL-Archäologie