Eine Beinprothese aus Schloss Hartheim

15.03.2024 Praktikant:in

Die Geschichte der Prothese

Die aktuelle „Modern Times“ Ausstellung befasst sich mit den letzten 200 Jahren der archäologischen Zeitgeschichte. Da es um das 19. Jahrhundert und der damit einsetzenden Industrialisierung einen noch nie dagewesenen Fortschritt gab, wirft die Modern Times-Ausstellung mit den verschiedensten Exponaten einen Blick auf das Leben der Menschen in dieser turbulenten Zeit voller neuer Ideen und Innovationen.

Mein Exponat der Wahl traf dabei eine Beinprothese, die einem Menschen gehörte, der in der Zeit zwischen 1940 und 1941 im Schloss Hartheim ermordet wurde. Doch wie kam es dazu?

 

 

Im nationalsozialistischen Deutschland gab es keinen Platz für Menschen mit physischen oder psychischen Beeinträchtigungen. „Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen wurden als Ballast für die Gesellschaft angesehen, ihr Leben als wertlos eingestuft.“[1] Denn im Zuge der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ wollte man alle Menschen, die laut NS-Ideologie „nicht lebenswert“ waren, aus dem Bevölkerungsbild beseitigen. Zunächst sollten diese Menschen in verschiedenen Kliniken untergebracht werden, dabei diente die Zentraldienststelle T4 in Berlin als „Auffangbecken“. Doch natürlich mussten Beeinträchtigte und unheilbar kranke Menschen auch versorgt werden, dementsprechend sollten sie den „Gnadentod “erhalten. Im nationalsozialistischen Sprachgebrauch auch bekannt als „Euthanasie“, vom Griechischen abgeleitet „angenehmer Tod“.

Diese geplanten Tötungen in Hartheim begannen Anfang April 1941, schätzungsweise starben infolgedessen 10.000 Menschen durch die geplanten Hinrichtungen. Hitler lässt die Aktion am 24. August 1941 jedoch überraschend stoppen, vermutlich aufgrund von immer größer werdenden Gerüchten und Protesten seitens der Bevölkerung. Dennoch ist bis heute das Schloss Hartheim ein Symbol für die perfide Rassenideologie des NS-Regimes.

Einer dieser verstorbenen Menschen, die man bei den Ausgrabungen fand, trug genau diese Beinprothese, die man nun im Museum finden kann. Der Grund, warum dieser Mensch hinter der Geschichte eine Beinprothese trug, ist eine ganz andere. Das Traurigste an der ganzen Geschichte ist, wie ein Mensch versucht hat, sich durch die Prothese wieder in die Gesellschaft einzugliedern, doch am Ende dennoch ausgeschlossen wurde und dafür auch noch mit dem Leben bezahlte. Doch warum trug dieser Mensch überhaupt eine Prothese? Und wie weit war die Technologie von damals? Dies sind alles Fragen, die ich mir beim Betrachten des Austellungsobjekts „510“ gestellt habe. Daher versuche ich im Folgenden diesen Dingen auf den Grund zu gehen und diese, wenn möglich, beantworten zu können.

Rekonstruktion der getragenen Prothese des verletzten Menschen. Der gebeugt im Knie versteifte Mann konnte so wieder gehen. In: Mayke Wagner; Julia Gresky; Pavel Tarasov: Inklusion vor 2300 Jahren, in: Archäologie in Deutschland No. 2 (April – Mai 2017), pp. 14-19.

2300 Jahre alte Prothese

Die Geschichte der Beinprothese beginnt bereits in der Antike. Dies belegt eine Beinprothese, die in einem schätzungsweise 2300 Jahre alten Grab im westchinesischen Turfan gefunden wurde.[1] Da das Grab sich in einem extrem trockenen Klima befand, zersetzten sich die  organischen Materialien nur langsam, sodass man Überreste der Prothese ausgraben konnte. Vermutlich hatte die begrabene Person eine überstandene Skeletttuberkulose, die das Bein unbenutzbar machte. Dennoch beweisen die Muskelansätze und die Knochenstruktur, dass der Mann körperlich sehr aktiv war. „Die hochgradige Beugung des Unterschenkels war jedoch irreversibel und machte sowohl das Stehen als auch das Gehen auf dem linken Bein unmöglich.“ Um trotz seiner Behinderung gehen und notfalls kämpfen zu können, wird der Mann sich selbst ein Stelzbein gefertigt haben.

Zeichnung der Prothese die im westchinesichen Turfan ausgegraben wurde, mit Angaben der Länge und der Bestandteile. In: Mayke Wagner; Julia Gresky; Pavel Tarasov: Inklusion vor 2300 Jahren, in: Archäologie in Deutschland No. 2 (April – Mai 2017), pp. 14-19.

Die Prothese bestand dabei aus drei Komponenten: Oben eine Flache Platte, mit der die Prothese am Oberschenkel befestigt werden konnte, darunter eine Rundholzstelze und ein Lederriemen, der die beiden Teile zusammenhielt. Unten an der Spitze befand sich zusätzlich ein Stück Schafshorn, vermutlich zur Verstärkung des Hufs. Zwar war der Unterschenkel des Mannes nicht amputiert, dennoch nicht belastbar. Das Stelzbein ersetzte den Unterschenkel und verdient somit die Bezeichnung „Prothese“.

Beginn der industriellen Fertigung von Prothesen

Die Prothesen, die 2000 Jahre später im ersten Weltkrieg vermehrt zum Einsatz kamen, ähnelten vom Aufbau stark der antiken Prothese.

Während im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit Menschen, die körperlich eingeschränkt waren, größtenteils einfach damit leben mussten oder sich selbst Prothesen anfertigten, kam es nach dem ersten Weltkrieg erstmals zu einer großen industriellen Produktion von Prothesen für Menschen, die infolge des Krieges Gliedmaßen verloren hatten. Diese wurden damals „Ersatzglieder“ genannt und waren dazu da, die Menschen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, damit sie wieder arbeiten konnten.[1] Vermutlich betraf dies auch den Menschen, der in Hartheim gefunden wurde. Denn schon Ende 1914 gab es ca. 500 000 verletzte Heimkehrende, nach dem Krieg waren es sogar 2,7 Mio. Kriegsversehrte. Da die vielen verstümmelten Menschen für die Gesellschaft den verlorenen Krieg symbolisierten, wurde die Prothese zum Bestreben des Staates diese in großen Maße herzustellen. Bereits 1915 beschließt das Kriegsministerium die Einrichtung einer zentralen Koordinationsstelle zur Entwicklung von Prothesen.[2] Dabei kamen erstmals Wissenschaft, Psychologie und Maschinenbau zusammen, um den Bau und die Anpassung der Prothese für die „verletzte“ Gesellschaft zu initialisieren und voranzutreiben. Somit begannen Ingenieure, Orthopäden und Chirurgen Ersatzglieder zu bauen, die in „Krüppelheimen“ geprüft und verordnet wurden.

Bau einer Prothese von zwei Arbeitskräften in 1917. Von https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Covering_artificial_leg_LCCN2014708161.tif

Die „Ersatzglieder“ sollten einerseits dem lädierten Körper und andererseits seiner gequälten Seele dienen. Denn in der damaligen Gesellschaft bedeutete nicht arbeiten zu können natürlich um seine Existenz zu kämpfen und einen minderwertigen Wert in der Gesellschaft.

Im Zuge industriellen Fertigung von Prothesen führte man Normen und verschiedene Größen von Prothesen ein. Dabei versuchten Ingenieure und Ärzte auch immer mehr, den Bewegungsapparat des echten Körperteils nachzustellen. Man unterschied verschiedene Arten von Prothesen, eingeteilt in Tätigkeitstypen und den entsprechenden Ersatzgliedern: Es gab z.B. den alltagstauglichen und komplexen „Gebrauchsarm“ oder für schwere Arbeiten den „Arbeitsarm“ oder sogar für den Beruf mit Menschenkontakt eine Prothese, die möglichst lebensnah musste.

1916 folgte dann schließlich der Durchbruch der modernen Prothese durch den Chirurgen Ferdinand Sauerbruch. Er konstruierte einen Kanal, der bei dem verbliebenen Armstumpf durch das Muskelgewebe gesteckt wird und somit die Bewegung der verbliebenen Muskulatur im Armstumpf auf die Prothese überträgt. Diese Art der Prothese wurde auch der „Sauerbruch-Arm“ genannt und ebnete den Weg für unsere heutige Prothesentechnik.

Sauberbruch Verfahren, wobei der Bizeps Muskel vom Unterarm getrennt wird. Von https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Display_Sauerbruch-Arm_001.jpg
Sauerbruch-Arm: Mann dem infolge einer Verwundung im Ersten Weltkrieg der Arm amputiert wurde, trägt eine Armprothese aus Sauerbruch Plastik mit Hufner-Hand. Das Foto wurde in der Army Medical School aufgenommen. Von https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wearing_prosthetic_(NCP_002862),_National_Museum_of_Health_and_Medicine_(4768084228).jpg

Die Geschichte der Prothese hatte also einen lang Weg und dieser ist auch noch nicht vorüber. Aktuell forscht man an prothetischer Gentherapie, mit der Aussicht, Gliedmaßen zu ersetzen.

 

von Bijan Lak, Praktikant

Literaturverzeichnis

Mayke Wagner; Julia Gresky; Pavel Tarasov: Inklusion vor 2300 Jahren, in: Archäologie in Deutschland No. 2 (April – Mai 2017), pp. 14-19.

Mentzl, Lisa: 510 Vom Lebensretter zum Todesurteil – eine Beinprothese aus Schloss Hartheim, in: Modern Times, Archäologische Funde der Moderne und Ihre Geschichten. Dortmund 2023.

Horn, Eva: Prothesen. Der Mensch im Lichte des Maschinenbaus. In: Annette Keck, Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen. Bielefeld: transcript 2001, S. 193– 209. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/12316.

https://www.nzz.ch/wissenschaft/cybathlon-die-geschichte-der-prothesen-ld.119480. Letzter Zugriff: 15.03.2023