Eine süße Zeitkapsel: Die Nusstorte von Lübeck

06.08.2024 Praktikant:in

Bei meinem ersten Gang durch die Sonderausstellung „Modern Times“ wusste ich zuerst nicht, was mich dort erwarten könnte. Unter archäologischen Funden aus der Neuzeit konnte ich mir nicht wirklich etwas vorstellen. Umso überraschter war ich beim Anblick einer Champagnerflasche vom Meeresgrund der Ostsee, welche neben einem verbrannten Nusskuchen stand. Da ich selbst gerne backe, aber überhaupt kein Händchen fürs Kochen habe, fühlte ich mich diesem Kuchen direkt verbunden, auch ohne seine Geschichte zu kennen. Die Frage, was an diesem Kuchen so besonders sei und wie es sein konnte, dass dieser noch so gut erhalten ist, machte mich neugierig.

 

3D-Druck der mumifizierten Torte aus der Alfstraße in Lübeck. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/S. Brentführer)

Beschreibung

Diese bemerkenswerte Entdeckung wurde von Archäologen im April 2021 bei Ausgrabungen in der Lübecker Altstadt gemacht. Im Rahmen von Bauarbeiten wurde bei einer Schachtsetzung archäologisches Material aus dem Zweiten Weltkrieg freigelegt. Der Fund einer „Torten-Mumie“ aus einer Zeit des Krieges erregte nicht nur in Deutschland, sondern auch international großes Interesse. Es ist durchaus üblich, bei archäologischen Ausgrabungen auf sehr alte Nahrungsmittelreste zu stoßen, aber eine Torte aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs ist bislang einzigartig.

Zu sehen ist eine rußgeschwärzte, aber noch gut erkennbare „Torten-Mumie“ mit einer Verzierung aus Zuckerguss. Der Rand ist mit Nusskrokant bedeckt. Teilweise ist sie in Wachspapier eingeschlagen. Aufgrund der enormen Hitze und des dadurch entstehenden Flüssigkeitsverlusts schrumpfte der Kuchen um ein gutes Drittel seiner ursprünglichen Größe. Sie hat einen Durchmesser von ca. 22,5cm bis 19cm und ist und 4-5cm hoch. Zusammen mit der Nusstorte konnten die Archäologen auch das Porzellanservice mit Herzchenmuster und Schellackplatten bergen. Die Metabolomik (erforscht Stoffwechselprodukte und –eigenschaften von Zellen und Gewebe) konnte die Zusammensatzung der Torte bestimmen. Sie besteht aus 90% Kohlenstoff und enthält Spuren von Nüssen und Palmöl. Dieses diente als Ersatz für Butter, welche bereits zu Beginn des zweiten Weltkrieges rationiert wurde.

Die Torte stellt die Archäologie vor eine besondere Herausforderung. Das Konservieren der Torte ist schwierig, da sie sehr instabil ist und unter besonderen Bedingungen aufbewahrt werden muss. Daher wurde ein 3D-Abdruck der Torte entworfen, welche ausgestellt wird.  

Ein Stück Geschichte

Für Frank Timo Lange könnte die Torte ein Stück Familiengeschichte sein. Seinen Urgroßeltern gehörte das Haus mit der Nummer 18 in der Alfstraße der Lübecker Altstadt, wo die Tortenmumie gefunden wurde.

Dagmar Hitze lebte 1942 in besagtem Haus. Wenige Wochen zuvor war ihr Mann verstorben und sie lebte nun allein. Wahrscheinlich wollte ihre Tochter mit Familie sonntags zu Besuch kommen. Es ist der Tag vor Palmsonntag und vermutlich hat Dagmar Hitze dazu eine Nusstorte gebacken. Eine echte Besonderheit, da Lebensmittel wie Butter, Zucker und Milch bereits zu Beginn des Krieges rationiert wurden. Der reich mit Zuckerguss und Krokant verzierte Kuchen bildet einen starken Kontrast dazu. Auch die schön hergerichtete Kaffeetafel lässt friedlichere Umstände vermuten. Es wurde das gute Porzellan mit Herzmotiven angerichtet und für ein stimmiges Ambiente durch Musik von Schellackplatten gesorgt. Der Plan schien es also gewesen zu sein, am Palmsonntag bei Kaffee und Kuchen Beethovens Mondscheinsonate op. 27 Nr. 2 zu lauschen und Zeit mit der Familie zu verbringen.

Dies verhinderte jedoch der Bombenangriff der Briten in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942. Als Reaktion auf die Bombenangriffe der Deutschen entschied die britische Führung, Luftangriffe auf dicht bebaute Stadtgebiete innerhalb Deutschlands durchzuführen. Das Ziel war es, die Bevölkerung zu destabilisieren und zu entmutigen. Dass dabei vor allem die zivile Bevölkerung getroffen wurde, nahm man in Kauf. Lübeck gilt dabei als Vorreiter für weitere Flächenbombardements. Alleine in dieser Nacht haben 234 Flugzeuge der Royal Air Force rund 400 Tonnen Sprengstoff über der Hansestadt abgeworfen. Beim Flächenbombardement der Altstadt wurden auch die Häuser der Alfstraße bis auf wenige Ausnahmen im Westen zerstört. Durch den Luftangriff scheinen Teile des Hauses, wie die Küche, aus dem Erdgeschoss in den Keller abgerutscht zu sein. Die durch das Feuer entstandenen Hitze, hat die Torte verkohlen lassen. Der herabstürzende Schutt hat einen fast luftleeren Raum um die Torte gebildet und sie somit vor dem Zerfall bewahrt.

Es sind rund 320 Menschen bei dem Angriff gestorben und ca. 30 Prozent der Altstadt wurden zerstört.

Die Bedeutung dieses Fundes geht weit über die Tatsache hinaus, dass es sich um eine gut erhaltene Torte handelt. Er steht in direktem Zusammenhang mit dem Bombenangriff auf Lübeck, einem Ereignis, das tief im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert ist.

Bundesarchiv, Bild 146-1980-121-20 / Appel, E. / CC-BY-SA 3.0
Bundesarchiv Bild 146-1977-047-16, Lübeck, brennender Dom nach Luftangriff.jpg

Ein Symbol der Widerstandsfähigkeit

Der Fund dieser Torte ist mehr als nur eine archäologische Kuriosität. Dank des hohen Zuckeranteils und des sauerstoffarmen Raums konnte die Torte bis heute bestehen. Sie symbolisiert die Widerstandsfähigkeit der Menschen und der Stadt Lübeck. Trotz der Zerstörung und der Verluste hat die Stadt sich wiederaufgebaut und ihre Geschichte bewahrt. Die Torte erinnert daran, dass selbst in Zeiten größter Not die Kultur und die Traditionen, wie bei Familie Hitze, überleben können.

Dies macht sie zu etwas Besonderen und wird auch in diesem Rahmen in der Sonderausstellung „Modern Times“ zusammen mit einer Champagnerflasche aus den 1840ger Jahren gezeigt.

Archäologische Funde von Nahrungsmitteln

Archäologische Essensfunde bieten faszinierende Einblicke in vergangene Kulturen. Bereits in der Bronzezeit finden sich Fragmente von Grabbeigaben wie Brot oder die Knochen von Tieren, welche beigelegt wurden. Auch Reste von Getreide, wie es ab dem 6. Jahrtausend v. Chr. angebaut wurde, werden immer wieder in Mahlsteinen gefunden. Dies gibt nicht nur Aufschluss darüber, dass die Menschen ab dieser Zeit an einem Ort geblieben sind, sondern auch über ihre alltäglichen Gewohnheiten und Lebensumstände.

In Römerlagern wie Haltern am See entdeckten Archäologen verkohlte Getreidekörner, Tierknochen und importierte Lebensmittel wie Oliven, die den vielseitigen Speiseplan der Römer belegen. Ein besonderer Fund stammt allerdings aus dem in Italien gelegenen Pompeji, welches durch den Ausbruch des Vulkans Vesuv im Jahre 79 n. Chr. von einer meterdicken Ascheschicht bedeckt wurde. Darunter fanden sich konservierte Nahrungsmittel, ähnlich wie bei der Nusstorte aus Lübeck. Neben den üblichen Getreidefunden fanden sich auch Eier, Brote, Kuchen und Nüsse. In der Dauerausstellung findet sich zudem eine zerbrochene Amphore aus dem 5. bis 9. Jahrhundert n. Chr. aus Delbrück-Anreppen mit Resten von Fischsauce. Diese wurde in einem Brunnen der Römer gefunden, welche das Lager vermutlich verließen und weiterzogen. Besonders oft finden sich allerdings die Reste von Tieren, welche Teilweise als Grabbeigaben oder Opfer für die Götter fungierten, oder einfach nach dem Verzehr in den Müll gelandet sind.

Mittelalterliche Burgen und Klöster offenbarten Überreste von Obst, Gartenfrüchten und Tierresten, die auf eine ausgewogene Ernährung hinweisen. Gefunden werden diese oft in Kloaken wie in der Stadtkirche Münster, welche organisches Material durch den darin entstehenden hohen pH-Wert konservieren. Eine große Hilfe bei der Rekonstruktion der Speisen sind auch die noch erhaltenen Kochbücher, welche in Klöstern oder alten Herrenhäusern gefunden werden. Sie geben auch Aufschluss über die Unterschiede in der Ernährung zwischen Adeligen und dem einfachen Volk.

Funde aus der frühen Neuzeit, wie Kartoffeln, Mais und Eier zeigen den Einfluss neuer Nahrungsquellen auf die Ernährung und Kultur. Mit der Entdeckung Amerikas änderten sich auch die Essgewohnheiten der Menschen in Europa. Archäologische Funde veranschaulichen dabei nicht nur die sich ändernden Ernährungsgewohnheiten, sondern auch Handelsbeziehungen und landwirtschaftliche Praktiken und geben wertvolle Einblicke in die sozialen Strukturen vergangener Gesellschaften.

 

Praktikantin Michèle Jakob

  • Zusammengesetzte Amphore aus einem Römerlager. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen)

  • Römische Amphore zerbrochen mit Resten von Fischsauce aus Römerlager. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen)

  • Schädel von Tieren auf Steinen. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen)

  • Essensreste aus einer Kloake in Münster. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen)


Literatur

Archäologen finden fast 80 Jahre alte Nusstorte in Lübeck. (09.09.2021). RTL NEWS. Bei Bombenangriff verschüttet: Archäologen finden fast 80 Jahre alte Nusstorte in Lübeck (rtl.de) (letzter Aufruf: 15.07.24).

Czeika, Sigrid: Alltagsgeschichten aus dem Abfall. Tierknochen und Pflanzenfunde als Reste mittelalterlicher Nahrung, in: Um die Wurst. Vom Essen und Trinken im Mittelalter. 2005, S. 65-70.

Die Lübecker Archäologie entdeckt Torte als Zeitzeuge des Luftangriffs. (07.09.2021). Hansestadt Lübeck. Lübeck.de – Offizielles Stadtportal für die Hansestadt Lübeck (luebeck.de) (letzter Aufruf: 15.07.24).

Gerlach, Gudrun: Essen und Trinken in römischer Zeit. 1992.

März 1942: Lübeck brennt im Bombenhagel. (28.03.2022). NDR.  März 1942: Lübeck brennt im Bombenhagel | NDR.de - Geschichte - Chronologie (letzter Aufruf: 15.07.24).

Michael Lagers: Krokant verbrannt: die Lübecker Nusstorte, in: Modern Times. Archäologische Funde der Moderne und ihrer Geschichte. 2023, S. 345-347.

Renn, Lisa: Die Torte aus den Trümmern. Ein einzigartiger Fund aus einem Keller in der Alfstraße. LWL-Museum für Archäologie und Kultur YouTube. https://www.youtube.com/live/1br9v9tWcDI (letzter Aufruf: 15.07.24).

Abbildungen:

Wikipedia: Bundesarchiv, Bild 146-1980-121-20 / Appel, E. / CC-BY-SA 3.0 Datei: Bundesarchiv Bild 146-1980-121-20, Zerstörtes Lübeck.jpg – Wikipedia

Wikipedia: Bundesarchiv Bild 146-1977-047-16, Lübeck, brennender Dom nach Luftangriff.jpg

3D-Druck der mumifizierten Torte aus der Alfstraße in Lübeck. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen/S. Brentführer)

Essensreste aus einer Kloake in Münster. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen)

Römische Amphore zerbrochen mit Resten von Fischsauche aus Römerlager. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen)

Schädel von Tieren auf Steinen.  (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen)

Zusammengesetzte Amphore aus Römerlager. (Foto: LWL-Archäologie für Westfalen)