Menschen als Nummern – der Identität beraubt

21.09.2023 Praktikant:in

Die Häftlingsmarken aus dem KZ-Außenlager Witten-Annen

Foto: LWL, S. Brentführer.

KZ-Außenlager: Verlegung und Todesmarsch

Am 16.09.1944 verlegt die SS erstmals 750 Häftlinge aus Buchenwald in das KZ-Außenlager Witten-Annen. Die meisten sind politische Häftlinge und Kriegsgefangene. Das Besondere an ihnen: sie sind mehrheitlich gelernte Industriearbeiter.

248 Sowjetbürger, 226 Franzosen, 71 Polen, 63 Tschechen, 46 Italiener, 43 Deutsche und 13 Belgier werden ab sofort in den Annener Gußstahlwerken zur Zwangsarbeit eingesetzt. Ein Fünftel von ihnen hat das 20. Lebensjahr noch nicht erreicht, der jüngste Häftling ist gerade einmal 14 Jahre alt.

In 12 Stunden Schichten werden die Jungen und Männer für den Betrieb der Drehherdöfen, für Bohr-, Fräs- und Transportarbeiten eingesetzt. Aus Sicht der SS unzureichende Leistungen werden mit Prügel und anderen Maßnahmen bestraft. Mindestens 30 Männer überleben die katastrophalen Arbeitsbedingungen nicht, viele weitere werden schwer krank nach Buchenwald zurück transportiert und durch neue Häftlinge ersetzt. Hinzukommende Fluchtversuche senken die Zahl der Lebenden auf weniger als 600 herab.
Die verbliebenen Häftlinge werden im März 1945 auf einen Todesmarsch nach Nord-Osten getrieben. Nur wenige schaffen es bis nach Lippstadt, wo sie Anfang April von alliierten Truppen befreit werden.

Foto: Unbekannt

Verdrängen, Vergessen, Verschweigen

Alles beginnt mit einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau der Klasse 10a des Albert-Martmöller-Gymnasiums aus Witten.
1984 entdecken die Schüler:innen auf einer Übersichtskarte das Außenlager Witten-Annen. Sie recherchieren und veröffentlichen schließlich im Rahmen eines Geschichtswettbewerbes einen Aufsatz über das ehemalige Lager. Damit stoßen sie nicht nur weitere Aufarbeitungs- und Erinnerungsprojekte an, sie lösen eine öffentliche Diskussion über das kommunale Vergessen an. Wie kann ein Ort des NS-Terrors in Vergessenheit geraten und erst 35 Jahre später wiederentdeckt werden? Verdrängen, vergessen oder verschweigen?

Insbesondere in der Fachwelt werden Diskussionen über Denkmalpflege angestoßen.
Auf Initiative der Schüler:innen wird 1990 eine Gedenktafel auf dem ehemaligen Gelände aufgestellt. Die Restfläche steht als archäologisches Bodendenkmal unter Denkmalschutz. Erst 2013 entsteht ein Mahnmal und weitere Hinweistafeln werden vor Ort angebracht.

Foto: J.Fruck

Beginn einer Holocaust-Archäologie

Die Grabungen in Witten-Annen machen den Anfang in Deutschland und gelten als früheste Freilegung eines Konzentrationslagers in Deutschland. Schriftquellen geben zwar Aufschluss über einige der Funktionsbereiche, aber die Grabungen 1990/91 sollen offene Fragen beantworten und weitere Informationen geben. Die erste Sondierung zeigt Fundamentreste und Überreste der Betonpfeiler des Lagerzauns.  Als „Goldgrube“ erweist sich allerdings der Feuerlöschteich auf dem Gelände in Witten-Annen, der nach Kriegsende und Auflösung des Lagers als Müllgrube verwendet wird. Zutage kommen persönlichen Gegenstände der Häftlinge, Essgeschirr und auch die 32 Häftlingsmarken - zahlreiche Funde, die Aufschluss über das Lagerleben geben.

Foto: T.Poggel

Identitätsraub

Was macht Identität eigentlich aus? Charakter, Aussehen, Sprache? Die Identität wird als das Gesamtwerk der Eigentümlichkeiten eines Menschen definiert. Es sind all die Dinge, die einen Menschen als Individuum kennzeichnen und von anderen unterscheiden.

Im Mittelalter herrschte die Grundeinstellung, dass Familie und Name den Adel ausmachten. Die damalige Gesellschaft orientierte sich an der hohen Wirksamkeit eines Namens. Vermutlich hat der Name, den ein Mensch trägt, bis heute die identitätsstiftende Wirkung nicht verloren. Mit unserem Namen definieren wir uns selbst als Individuum und werden als die Person identifiziert, die wir sind. Unser Name vereinigt alles, was uns ausmacht – vom Äußeren bis hin zu Werten, Normen und Idealen.

Man könnte davon ausgehen, dass einem Menschen die Identität nicht genommen werden kann, aber die Geschichte beweist das Gegenteil.

Die Häftlinge, die in Witten-Annen eintreffen, müssen ihren Namen gegen eine Nummer eintauschen. Aus der Identität dieser Menschen werden Zahlen, gestanzt auf eine ca. 3,1cm große Metallmarke, die ab sofort um den Hals getragen werden muss.

Entrechtung, Entmenschlichung und Entpersonalisierung: Gekleidet in einheitlichen, gestreiften Stücken und mit abrasierten Haaren werden die Häftlinge zu der Nummer, die um ihren Hals hängt.

Archäologie der Moderne

Seit nun zwei Wochen ist die aktuelle Sonderausstellung „Modern Times“ in Herne eröffnet. Die Archäologie, die sich grundlegend mit Dingen beschäftigt, die der Mensch hervorgebracht hat, wird hier anhand von sechs Kategorien dargestellt.
Die vergangenen 200 Jahre, geprägt von Kriegen und Zerstörung sind eine Facette der modernen Gesellschaft, die sich auch in den Funden aus dem KZ-Außenlager wiederspiegelt.

Drei der Häftlingsmarken sind auf dem Band der Zerstörung, eine der sechs Kategorien ausgestellt. Die übrigen sieben Häftlingsmarken haben ihren Platz in der Dauerausstellung des Museums behalten. 

 

Die Häftlingsmarken zeigen, dass selbst Geschichte aus dem 20.Jahrhundert Aufschluss über die Vergangenheit geben kann, die kaum schriftliche Überlieferung bietet. Es ist der Beginn der Holocaust Archäologie.

Die damalige Landesarchäologin Gabriele Isenberg formulierte es so: „Die Konfrontation mit einem Originalzeugnis greift unmittelbar an, weil die Vorstellungskraft weniger strapaziert werden muss.“

So auch hier:  Diese unscheinbar wirkenden Marken lösen bei den Betrachtern Betroffenheit aus. Mit Unwohlsein und Beklommenheit denken wir an diesen Teil unserer Vergangenheit, den wir lieber vergessen und verdrängen würden.

Diese Häftlingsmarken stehen für kommunales Vergessen, für Verdrängung, Identitätsraub und einen grausamen Teil unserer Vergangenheit. Sie stehen aber auch für den Beginn einer neuen Archäologie. Sie kennzeichnen den Punkt, an dem Aufarbeiten nicht mehr ausschließlich an schriftlichen Quellen stattfindet. 
Für mich sind sie ein Symbol des Erkennens, des Erinnerns und – trotz des Widerspruchs -  ein identitätsstiftender Teil unserer Vergangenheit. Sie zeigen uns, was Menschlichkeit und Toleranz bedeuten – etwas, was die Menschheit gelegentlich zu vergessen scheint.

Autorin: Julie Schröer, Studentische Praktikantin

Literatur

Albert-Martmöller-GymnasiumKlasse 10a im Schuljahr 1984/85 (Hrsg.): das Konzentrationslager Witten-Annen. Ein Außenkommando des KZ Buchenwald, Witten (1985).

Bpb Bundeszentrale für politische BildungKZ-Außenlager Witten „Anner Gußstahlwerke“: https://www.bpb.de/themen/holocaust/erinnerungsorte/503438/kz-aussenlager-witten-anner-gussstahlwerke/ (20.09.2023).

Förderverein Buchenwald e.V.:, Buchenwald war überall, Projekt „Netzwerk der Außenlager“ – Witten Annen: https://www.aussenlager-buchenwald.de/details.html?camp=142 (20.09.2023).

Isenberg, Gabriele: Zu den Ausgrabungen im Konzentrationslager Witten-Annen. Ausgrabungen und Funde, Nachrichtenblatt der Landesarchäologie 40/1 (1995), S.33-37.

Grieger, Manfred, Völkel, Klaus: Das Außenalger „Annener Gußstahlwerk“ (AGW) des Konzentrationslagers Buchenwald September 1944-April 1945, Essen (1997).

LWL-Museum für Archäologie und Kultur: Westfälisches Landesmuseum Herne, Modern Times – Archäologische Funde der Moderne und ihre Geschichten, Dortmund (2023), S.435-437.

Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL): 100 Jahre / 100 Funde – das Jubiläum der amtlichen Bodendenkmalpflege in Westfalen-Lippe: https://100jahre100funde.lwl.org/de/100-fundeepochen/moderne/099-haftlingsmarken/ ( 04.09.2023).

Theune, Claudia: Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts, Darmstadt (2016), S.39-40.