Eine (Un)Tote auf Abwegen - Der Fall der Roten Lena

26.09.2023 Praktikant:in

Im Rahmen meines Praktikums sollte ich einen Artikel für den Blog des Museums schreiben – über mein Lieblingsexponat. Puh, Lieblingsexponat. Leichter gesagt als getan für eine Person, die sich nicht mal entscheiden kann, was sie Frühstücken möchte. Wie findet man so etwas? Auf der Suche nach dem einen Exponat wanderte ich mehrfach durch die Dauer- und Sonderausstellung. Ich kam an einer verkohlten Nusstorte, einem hübschen Senftöpfchen, einer Bäuerin und Kaiser Augustus persönlich vorbei. Sollte etwas oder jemand davon mein Lieblingsexponat sein?

Nie hätte ich gedacht, dass es ein Haufen Steine auf einer Papierskizze sein würde, an denen ich dauernd vorbeigelaufen bin, ohne sie auch nur eines zweiten Blickes zu würdigen. Ganz im Zeichen der Sonderausstellung war es nicht das, was ich vor Augen hatte, was mich gefesselt hatte, sondern die Geschichte dahinter.

Die Steine bzw. das, was sie in Schach halten sollten, war Anna Marlene Princk.

Ein Porträt von Gesche Gottfried. © Rudolf Friedrich Suhrlandt. Wikimedia Commons.

Mäusebutter am Morgen, vertreibt Kummer und Sorgen.

Doch zunächst mal die wichtigste Frage: Wer war Anna Marlene Princk überhaupt?

Anna Marlene hatte kein leichtes Leben. Sie wurde um das Jahr 1800 in ärmliche Verhältnisse geboren und arbeitete als Haushälterin in einem Gutshof in Buxtehude. Im Alter von 20 Jahren wurde ihr von dem 14 Jahre älteren Knecht Hans Princk nachgestellt, der sie vergewaltigte und kurze Zeit später – auf Drängen ihrer Eltern – zu ihrem Ehemann wurde. Es überrascht an dieser Stelle wohl niemanden, dass es sich nicht unbedingt um eine Bilderbuchehe gehandelt hat. Anna Marlene wurde fortwährend von ihm missbraucht. Sie selbst hatte mehrere, zum Teil deutlich jüngere, Liebhaber; Ein nach damaligem Standard schweres Vergehen.

Auf Begehren eines dieser Liebhaber ließ sich Anna Marlene dazu überreden, ihrem Leid ein Ende zu bereiten. Sie wollte ihrem Peiniger den Garaus machen. Hierfür verwendete sie etwas, das im Volksmund als „Mäusebutter“ bezeichnet wurde: Mit Arsen versetztes Butterschmalz, das – eigentlich – gegen Nagetiere eingesetzt wurde. Vielleicht hatte sie sich von der Serienmörderin Gesche Gottfried inspirieren lassen, die einige Jahre zuvor auf ähnliche Weise fünfzehn Menschen getötet hatte. Doch darüber lässt sich heute nur spekulieren.

Anna Marlene wurde die Wahl des Mordmittels zum Verhängnis, denn aufgrund gehäufter Vorkommnisse von Arsenvergiftungen wurde kurz vorher ein Verfahren zum Nachweis der Chemikalie entwickelt. Der Verdacht bestätigte sich: Arsen im Magen ihres nun Ex-Ehemannes.

So kam es, dass Anna Marlene Princk – aufgrund ihrer roten Haare auch die "Rote Lena" genannt – am 15. Juni 1839 im Alter von 39 Jahren in ihrem Heimatort Harsefeld wegen Mordes und Ehebruches verhaftet wurde.

Der ehemalige Amtshof von Harsefeld. © E. S. Myer. Wikimedia Commons.

Ab mit ihrem Kopf!

Ihre Hinrichtung sollte jedoch erst knapp drei Jahre später stattfinden und bis dahin saß sie in einer Gefängniszelle des Amtshofes von Harsefeld. „Der Schimmel tropft von der Decke und Mäuse kriechen über meine Füße“, klagte sie, und auch ihr Gesuch, eine Katze halten zu dürfen, wurde abgelehnt.

Die Begriffe „Moderne“ und „Hinrichtung“ lassen sich für einige von uns im 21. Jh. nur noch schwer miteinander vereinbaren. Und doch fand die Hinrichtung von Anna Marlene Princk – öffentlich, wohlbemerkt – am 31.12.1842 im niedersächsischen Harsefeld statt. Eine Richtstätte gab es in dem Örtchen nicht mehr, sodass ein neuer Richthügel aufgeschüttet werden musste. Hätten wir heute an dieser Hinrichtung teilgenommen, hätten wir es im ersten Moment vermutlich nicht als Hinrichtung erkannt: Wie ein feierliches Schauspiel musste es gewirkt haben, als vor den Augen singender Schulkinder und tausender Schaulustiger der „Roten Lena“ der Kopf abgeschlagen wurde.  Nachdem der Scharfrichter Christian Schwarz sein Werk beendet hatte, wurde der Leichnam unmittelbar neben der Richtstätte bestattet. Ihren abgeschlagenen Kopf hatten die beiden Henkersknechte zwischen ihre Füße gelegt.

Sie sollte dort – auch lange nach der Einebnung des Hügels – bis Oktober 2020 unbemerkt überdauern.

Die Steine. © Stefan Brentführer (LWL).

Aber wie war das jetzt mit den Steinen?

Anna Marlene ist tot. Immerhin hatte sie keinen Kopf mehr. Aber was hat es dann mit den Steinen auf sich?

Die Angst der Menschen, dass ihre Toten nicht tot bleiben würden, ist ein Urmythos, der mit den Vorstellungs- und Glaubensansätzen der Menschheit tief verwurzelt ist. Von der Steinzeit bis zur Moderne – von China bis Schweden. Bis heute sind wir fasziniert von Filmmonstern wie Zombies oder Vampiren. Was heute integraler Bestandteil der Popkultur ist, war noch in den 30er Jahren ein Tatbestand in einem damals oberschlesischen Dorf. Es ist eine Gestalt mit vielen Gesichtern: Wiedergänger, Jiang Shi, draugar oder strigoi. Viele Namen für dieselbe Angst, die nachts auf uns lauern könnte.

Und die Arten, wie jemand zum Untoten wurde, waren vielfältig. Ein Mensch konnte jeden Moment seines Lebens Gefahr laufen, zum untoten Leben verdammt zu werden. Manchmal auch ohne das eigene Zutun. Muttermale auf der Haut, ein nicht gehaltenes Versprechen oder ein krummer Sargnagel reichten schon aus. Diese Vorstellungen waren regional und zeitlich höchst variabel, können aber grundsätzlich in drei Abschnitte kategorisiert werden:

  1. Vor oder während der Geburt
  2. Zu Lebzeiten oder
  3. Um den Todeszeitpunkt

Der erste Punkt dürfte nach heutigem Verständnis der merkwürdigste sein. Wie konnte man denn vor oder während der eigenen Geburt bereits den Grundbaustein für ein untotes Leben legen? Tatsächlich gibt es mehrere Möglichkeiten: Beispielsweise die oben genannten Muttermale oder eine zeitlich ungünstige Geburt. Ganz vorne steht im letzteren Fall eine Geburt während der Rauhnächte. Hierbei handelt es sich um die Nächte im Zeitraum zwischen der Wintersonnenwende und dem Dreikönigstag, an dem die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits verschwimmen und Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind. In dieser Zeit treibt auch unter anderem die Wilde Jagd – eventuell bekannt aus Andrzej Sapkowskis Hexer-Reihe – ihr Unwesen.

Der zweite und dritte Punkt erscheinen uns vermutlich noch am nachvollziehbarsten. Ein sündhaftes Leben oder ungetauft und somit kein Anrecht auf eine Bestattung in geweihtem Boden? Getötet oder eines anderweitigen unnatürlichen Todes gestorben? Potenziell auf Rache aus? Ta da, Wiedergänger! Und wenn Anna Marlene eines nicht getan hat, dann war es friedlich und mit sich im Reinen dahinscheiden. Bis zu ihrer Hinrichtung suchte sie Hilfe beim König, hoffte auf Begnadigung, doch es war vergebens. Reue zeigte sie in keinem Moment. Sie beschimpfte die Geistlichen, wehrte sich und zog jedwedes Geständnis zurück. Aber nicht nur eindeutige „Fehltritte“ wie die oben genannten konnten einen verdammen, sondern auch sehr viel banalere Lebensentscheidungen wie Berufswahl oder das Versetzen eines Grenzsteins. Der Volksmund kannte viele Vergehen.

Grabstein der Anna Marlene Princk. © Unbekannt. Wikimedia Commons.

Doch wie erkennt man nun archäologisch einen Wiedergänger? Finden lässt sich nur, was Spuren hinterlässt. Eindeutig feststellbar ist nämlich nicht die Angst selbst, sondern die Methoden und Maßnahmen, mit denen die Menschen versuchten ihre Verstorbenen im Grab zu halten. Leider darf nicht außer Acht gelassen werden, dass z.B. Ritualsprüche oder Weihrauch bereits im selben Moment kaum mehr nachweisbar sind. Wie sollten Archäolog:innen sie dann mehrere Jahrzehnte bis Jahrhunderte später noch erkennen können? Aufzufinden sind archäologisch in erster Linie die Spuren von Gewalt: Ein Loch in der Brust, wo früher mal das Herz war, lange Eisennägel mit denen der Körper im Sarg fixiert wurde, abgeschlagene Beine oder Steine, die den Sargdeckel beschwerten. Aha, nun sind wir also endlich bei den Steinen angekommen. In Anna Marlenes Grab lag der größte Stein über dem abgetrennten Schädel der Ex-Verbrecherin. Eine gängige Praktik in der Wiedergänger-Prävention. Auch die Beschwerung des Grabs zählt zu der am Häufigsten nachgewiesenen Maßnahmen der Untotenbannung, wenn auch nicht zwangsläufig die am meisten Genutzte.

Wir erinnern uns: Archäolog:innen finden nur, was gefunden werden kann, und Steine können immerhin mehrere Jahrmillionen überdauern.

Die Rote Lena im Kontext von „Modern Times“.

Nachdem nun umfassend über Wiedergänger und ihre Merkmale gesprochen wurde, stellt sich nur noch die Frage, weshalb sich Anna Marlene Princk in der aktuellen Sonderausstellung des Museums – „Modern Times“ – befindet. Immerhin fällt sie zwischen Kriegsüberresten und Meilensteinen der Industrialisierung etwas aus dem Schema. Ich wusste darauf keine Antwort, weshalb ich schnurstracks zu Dr. Stefan Leenen, Projektleiter und Exponatexperte, gelaufen bin. Dieser konnte mich zum Glück aufklären! Anna Marlene trägt die Nummer 504 auf dem „Zerstörungsstrang“ der Sonderausstellung und repräsentiert die Möglichkeiten der menschlichen Zerstörung fernab von Krieg. Öffentliche Hinrichtungen waren, wie auch die Umweltzerstörung, bis vor 150 Jahren in Deutschland noch Alltagsvorkommnisse.

Die Rote Lena wurde von Menschenhand verhaftet und von Menschenhand geköpft. Sie zeigt uns gerade nach ihrem Tod auf, wozu Angst und Aberglaube Menschen treiben können.

Autorin: Tabea Doll, Studentische Praktikantin


Literatur

Franz, Angelika: Von Harsefeld nach Stade. Für alle, die ausziehen wollen, das Fürchten zu lernen, in: Archäologie in Deutschland 4 (2021), S. 67-71.

Franz, Angelika; Nösler, Daniel: Geköpft und gepfählt. Archäologen auf der Jagd nach den Untoten, Darmstadt 2016.

Leenen, Stefan: Schutz vor dem Bösen. Schwere Steine gegen eine Untote, in: LWL-Museum für Archäologie und Kultur (Hrsg.): Modern Times, Herne 2023, S. 129-131.

Nösler, Daniel: Die „Rote Lena“. Ausgrabung der Richtstätte von Harsefeld, in: Ausgrabung Aktuell (09.11.2020), URL: Ausgrabung Aktuell: Ausgrabung Aktuell (museen-stade.de), abgerufen am: 26.09.2023.

Strey, Karsten: Gesche Gottfrieds Mäusebutter. Tatort Bremen, in: Chemie in unserer Zeit 56/4 (2022), S. 232-237.