Anna Marlene ist tot. Immerhin hatte sie keinen Kopf mehr. Aber was hat es dann mit den Steinen auf sich?
Die Angst der Menschen, dass ihre Toten nicht tot bleiben würden, ist ein Urmythos, der mit den Vorstellungs- und Glaubensansätzen der Menschheit tief verwurzelt ist. Von der Steinzeit bis zur Moderne – von China bis Schweden. Bis heute sind wir fasziniert von Filmmonstern wie Zombies oder Vampiren. Was heute integraler Bestandteil der Popkultur ist, war noch in den 30er Jahren ein Tatbestand in einem damals oberschlesischen Dorf. Es ist eine Gestalt mit vielen Gesichtern: Wiedergänger, Jiang Shi, draugar oder strigoi. Viele Namen für dieselbe Angst, die nachts auf uns lauern könnte.
Und die Arten, wie jemand zum Untoten wurde, waren vielfältig. Ein Mensch konnte jeden Moment seines Lebens Gefahr laufen, zum untoten Leben verdammt zu werden. Manchmal auch ohne das eigene Zutun. Muttermale auf der Haut, ein nicht gehaltenes Versprechen oder ein krummer Sargnagel reichten schon aus. Diese Vorstellungen waren regional und zeitlich höchst variabel, können aber grundsätzlich in drei Abschnitte kategorisiert werden:
- Vor oder während der Geburt
- Zu Lebzeiten oder
- Um den Todeszeitpunkt
Der erste Punkt dürfte nach heutigem Verständnis der merkwürdigste sein. Wie konnte man denn vor oder während der eigenen Geburt bereits den Grundbaustein für ein untotes Leben legen? Tatsächlich gibt es mehrere Möglichkeiten: Beispielsweise die oben genannten Muttermale oder eine zeitlich ungünstige Geburt. Ganz vorne steht im letzteren Fall eine Geburt während der Rauhnächte. Hierbei handelt es sich um die Nächte im Zeitraum zwischen der Wintersonnenwende und dem Dreikönigstag, an dem die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits verschwimmen und Naturgesetze außer Kraft gesetzt sind. In dieser Zeit treibt auch unter anderem die Wilde Jagd – eventuell bekannt aus Andrzej Sapkowskis Hexer-Reihe – ihr Unwesen.
Der zweite und dritte Punkt erscheinen uns vermutlich noch am nachvollziehbarsten. Ein sündhaftes Leben oder ungetauft und somit kein Anrecht auf eine Bestattung in geweihtem Boden? Getötet oder eines anderweitigen unnatürlichen Todes gestorben? Potenziell auf Rache aus? Ta da, Wiedergänger! Und wenn Anna Marlene eines nicht getan hat, dann war es friedlich und mit sich im Reinen dahinscheiden. Bis zu ihrer Hinrichtung suchte sie Hilfe beim König, hoffte auf Begnadigung, doch es war vergebens. Reue zeigte sie in keinem Moment. Sie beschimpfte die Geistlichen, wehrte sich und zog jedwedes Geständnis zurück. Aber nicht nur eindeutige „Fehltritte“ wie die oben genannten konnten einen verdammen, sondern auch sehr viel banalere Lebensentscheidungen wie Berufswahl oder das Versetzen eines Grenzsteins. Der Volksmund kannte viele Vergehen.