Als Kleidung noch wertvoll war – die Spinnwirtel aus Warendorf

28.03.2022 Praktikant:in

Abb. 1: Models auf einem Laufsteg. (Foto: Kris Atomic, Wikimeida Commons)

Wenn wir heute über Kleidung reden, dann meist über Mode. Welche Farben sind modern, welche Schnitte beliebt, und welche Kleidungsstücke lassen sich gut kombinieren? Über die Herstellung von Kleidung wird dagegen weniger geredet. Über die letzten Jahre ist das gesellschaftliche Bewusstsein für die schlechten Arbeitsbedingungen in vielen Textilfabriken gestiegen, und Fair Trade Mode sowie Second-Hand und selbstgemachte Kleidungsstücke werden immer beliebter. Aber so richtig wird die Produktion von Kleidung von den meisten nur wahrgenommen, wenn Nähfabriken einstürzen oder abbrennen, oder wenn Lieferengpässe für Lücken in den Regalen der Modegeschäfte sorgen.

Diese Distanz von der Kleidungsproduktion und die mangelnde Wahrnehmung der Produzent:innen von Kleidung ist eine relativ neue Entwicklung in der Menschheitsgeschichte. Manufakturen für die Herstellung von Garnen und Stoffen gibt es erst seit Ende des 17. Jahrhunderts, und Nähfabriken sogar erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Davor, und in vielen Gesellschaftsschichten auch noch während der ersten Jahrzehnte (oder Jahrhunderte) dieser Industrialisierung, wurden Textilien in Privathaushalten oder kleinen lokalen Betrieben hergestellt. Für mehrere tausend Jahre vor Erfindung des Spinnrads und der ersten halbmechanischen Webstühle stellte jeder Haushalt seine eigene Kleidung her, beginnend beim Scheren der Wolle (oder Ernten des Flachses), so wie man auch sein eigenes Essen kochte. Nur sehr wohlhabende Menschen konnten es sich leisten, Stoffe oder Kleidungsstücke zu importieren.

Um euch die gesellschaftliche Bedeutung von Kleidungsproduktion in der Vergangenheit etwas näher zu bringen, möchte ich euch in meinem Blogeintrag meine Lieblingsstücke hier im Museum vorstellen: die Spinnwirtel aus Warendorf. Sie sind als individuelle Objekte nicht besonders bemerkenswert, aber sie stehen stellvertretend für alle Werkzeuge zur Kleidungsherstellung, und damit auch für eine kulturelle Tätigkeit, die uns heute oft nicht mehr bewusst ist.

Abb. 2: Nachbau einer Spindel mit einem Spinnwirtel aus Warendorf. (Foto: Cornelia Moors, LWL Museum für Archäologie, Bearbeitung: Lotta Dümeland)

Die spinnt doch! – Von der Wolle zum Garn mit der Handspindel

Spinnen ist der Prozess, bei dem aus einzelnen Fasern Garne hergestellt werden, indem die Fasern miteinander verdreht werden. Dieses Verdrehen lässt sich von Hand bewerkstelligen, dauert dann aber zum einen sehr lange und hält zum anderen nicht so gut. Effizienter ist es, wenn das Garn über ein Werkzeug in eine ständige Drehbewegung versetzt wird und sich dadurch sozusagen selbst verdreht. Das einfachste Werkzeug, mit dem sich eine solche Drehbewegung erreichen lässt, ist eine Spindel. Eine Spindel besteht aus einem schmalen Stab, der an den Enden leicht spitz zuläuft, und aus einem Gewicht, das auf den Stab gesteckt wird. Dieses Gewicht ist der Spinnwirtel. Spinnwirtel wurden und werden aus vielen Materialien hergestellt, unter anderem aus Ton, Knochen, Holz und Glas. Wie häufig Holzwirtel in der Vergangenheit waren, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, denn genauso wie die Spindelstäbe aus Holz haben sie meistens nicht bis heute überlebt. Wir wissen aber, dass Tonwirtel häufiger vorkamen als Knochenwirtel, und dass Glaswirtel eher selten waren.

Abb. 3: Mittelalterliche Zeichnung einer mit Handspindel und Spinnrocken spinnenden Frau (14. Jh.). (Bild: Wikimedia Commons)

Formen von Spinnwirteln können unterschiedlich sein. Wichtig ist nur, dass sie ein Loch in der Mitte haben und dass sie um dieses Loch herum symmetrisch sind. Durch das Loch wird der Spinnwirtel auf den Spindelstab gesetzt. Die Symmetrie ist wichtig, damit sich die Spindel gleichmäßig dreht. Wie ihr vielleicht schon bemerkt habt, könnte diese Beschreibung auch auf eine Perle zutreffen. Zwar sind Spinnwirtel mit einem Durchmesser um die 4 cm meist deutlich größer als gewöhnliche Perlen, mit absoluter Sicherheit kann eine Unterscheidung aber meist nicht getroffen werden.

Um mit einer Handspindel zu spinnen, müssen die ersten Fasern des zu verspinnenden Materials mit den Fingern verzwirbelt und an der Spindel angebracht werden. Einige Spindeln haben für diesen Zweck einen Haken oder eine Öse, bei anderen muss das Garn festgeknotet werden. Die Spindel wird dann angedreht, entweder zwischen den Fingern oder indem sie über den Oberschenkel gerollt wird. Sie dreht sich frei hängend, und der:die Spinner:in führt dem Garn mit beiden Händen frische Fasern zu, solange bis die Spindel aufhört sich zu drehen oder das Garn so lang wird, dass die Spindel auf dem Boden aufkommt. Das Gewicht des Spinnwirtels beschleunigt und verlängert die Drehbewegung der Spindel und ermöglicht so ein schnelleres Arbeiten. Das Garn wird dann aufgewickelt und die Spindel erneut angestoßen, und der Prozess beginnt von vorne. Manchmal wird auch ein sogenannter Spinnrocken genutzt, an dem die ungesponnene Wolle befestigt wird, damit sie nicht lose auf dem Schoß liegen oder in der Hand gehalten werden muss. Auf diese Art wurde für über 7000 Jahre Garn hergestellt, bis im 11. oder 12. Jahrhundert die ersten Spinnräder erfunden wurden.

Überreste ihrer Zeit - die Spinnwirtel aus Warendorf

Abb. 4: Sechs Spinnwirtel aus Warendorf. Nur die Wirtel sind archäologische Funde, die Spindelstäbe und die Wolle sind dekorativ. (Foto: Cornelia Moors, LWL Museum für Archäologie)
Abb. 5: Ein Modell von Häusern aus der frühmittelalterlichen Siedlung Warendorf. (Foto: Lotta Dümeland)

Die meisten Spinnwirtel hier im Museum stammen aus Ausgrabungen einer frühmittelalterlichen Siedlung bei Warendorf in Westfalen. Die Siedlung wurde in den 1950er Jahren ausgegraben, und brachte unter anderem Spuren von über 180 unterschiedlichen Bauten zutage. Einige dieser Bauten finden Sie in Modellform ebenfalls in unserer Dauerausstellung. Keramikfunde lassen eine Datierung der Siedlung auf das 7. und 8. Jahrhundert n. Chr., also auf das Frühmittelalter, zu. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Siedlung über einen Zeitraum von mindestens 150 Jahren bewohnt wurde. Neben Keramikfunden in der Form von Töpfen und anderen Gefäßen fand man in der Siedlung auch 13 tönerne Spinnwirtel sowie einen aus Knochen. Während sich Keramikgefäße aufgrund ihrer Form und Verzierung oftmals gut datieren lassen, gibt es diese Möglichkeit bei Spinnwirteln nicht. Deshalb lassen sie sich vor allem durch ihren Fundkontext, das heißt durch andere Objekte in deren Nähe sie gefunden wurden, datieren. Auf dieser Grundlage wird davon ausgegangen, dass die Spinnwirtel aus Warendorf hauptsächlich aus dem 8. Jahrhundert stammen.

Abb. 6: Querschnitte der vier Formtypen der Spinnwirtel aus Warendorf: Halbkugel (1); asymmetrisch-doppelkonisch (2); doppelkonisch (3); abgerundet doppelkonisch (4). (Abbildung: Ralph Röber)

Bei den Spinnwirteln aus Warendorf handelt es sich um recht einfache, unverzierte Exemplare. Sie weisen allerdings vier unterschiedliche Formen auf. Der Knochenwirtel stammt vermutlich aus einem Gelenkknochen und hat deshalb eine leicht abgeflachte Halbkugelform. Die Tonwirtel sind alle doppelkonisch, das heißt sie sind am unteren und oberen Ende schmaler und werden zur Mitte hin breiter. Bei den asymmetrisch-doppelkonischen Wirteln ist die breiteste Stelle nicht mittig, sondern im unteren Drittel des Wirtels. In diesen Fällen ist das untere Ende oft breiter als das obere. Die dritte Form von Spinnwirteln aus Warendorf ist abgeflacht doppelkonisch, das heißt anstatt in der Mitte spitz zusammenzulaufen ist die Kante abgerundet. Alle vier Warendorfer Wirtelformen sind für das frühmittelalterliche Nordwesteuropa typische Wirtelformen.

Abb. 7: Ein Spinnwirtel aus Glas (Durchmesser ca. 2,2 cm). Es handelt sich um ein Vergleichsobjekt aus dem 1. oder 2. Jh. (Foto: The Metropolitan Museum of Arts)

Wertvolle Begleiter in den Tod – Spinnwirtel aus Bernstein, Glas und Bergkristall als Grabbeigaben

Während Spinnwirtel aus Siedlungsfunden, wie auch die aus Warendorf, eigentlich ausschließlich aus Materialien mit vergleichsweise geringem materiellem Wert wie Ton oder Knochen bestehen, findet man in Gräbern auch immer wieder Spinnwirtel aus wertvollen Materialien wie beispielsweise Glas, Bergkristall oder Bernstein. Bei diesen ist die Abgrenzung zu Perlen noch schwieriger als bei Wirteln aus Ton oder Knochen, denn sie haben teilweise dieselben Formen, Herstellungsweisen und Verzierungen wie kleinere Perlen. Da der Spindelstab selbst sowie möglicherweise vorhandenes Garn für gewöhnlich nicht erhalten sind, müssen andere Methoden gefunden werden, um Spinnwirtel zu identifizieren.

Deshalb ist es gut, dass man Spinnwirtel (insbesondere aus wertvollen Materialien) häufiger in Gräbern findet als in Siedlungen. Vor allem im 6. Und 7. Jahrhundert n. Chr. waren Spinnwirtel häufige Grabbeigaben, insbesondere in Frauengräbern. Sie kommen so häufig vor, dass sie teilweise als Geschlechtsmarker für Gräber genutzt werden, bei denen eine DNA-Untersuchung zur Identifizierung des Geschlechts nicht möglich oder erwünscht ist, ähnlich wie Waffen zur Identifikation von Männergräbern genutzt werden. Dieses Vorgehen ist aber umstritten, da vereinzelt auch in genetisch identifizierten Männergräbern Spinnwirtel gefunden wurden (und manchmal auch Waffen in genetischen Frauengräbern vorkommen). Eine Unterscheidung zwischen „Krieger:innengräbern“ und „Handarbeiter:innengräbern“ ist im Kontext dieses Blogeintrags sinnvoller.

Der Fund aus einem Grab hat gegenüber dem aus einer Siedlung einen großen Vorteil: Die Position im Grab gibt uns nämlich Auskunft über die Bedeutung, die Spinnwirtel für die verstorbene Person beziehungsweise deren Angehörige hatten. Man findet Spinnwirtel in Gräbern in acht unterscheidbaren Positionen, welche auf zwei mögliche Funktionen hinweisen: als Werkzeug oder als Schmuckstück beziehungsweise Amulett.

Abb. 8: Beispiele für die Grabposition eines Spinnwirtels mit Werkzeugfunktion. (Grafik: Wikimedia Commons, Bearbeitung: Lotta Dümeland)

Schön (und) nützlich – kostbare Werkzeuge als Statussymbole

Eine Funktion als Werkzeug wird Wirteln zugeschrieben, die in der Hand, auf Arm- oder Brusthöhe, rechts oder links neben dem Körper unterhalb der Hüfte, oder zwischen den Füßen gefunden werden. Die Lage in der Hand deutet hierbei das Andrehen der Spindel an, eine Lage auf Arm- oder Brusthöhe wird mit dem Aufwickeln des gesponnenen Garns in Verbindung gebracht. Eine Lage neben dem Körper oder zwischen den Füßen zeigt vermutlich den Prozess des Spinnens selbst, während dem die Spindel am Garn neben dem Körper herunterhängt.

Bei Wirteln aus wertvollen Materialien, die in Werkzeuglage gefunden wurden, stellt sich aber teilweise trotzdem die Frage, ob sie tatsächlich als Werkzeuge benutzt wurden oder ausschließlich Zierobjekte waren (wie zum Beispiel auch ein reich verzierter Dolch manchmal nur als Wandschmuck oder zu zeremoniellen Zwecken genutzt wurde). Ein deutliches Zeichen dafür, dass Spinnwirtel als Werkzeuge benutzt wurden, sind Abnutzungsspuren im Spindelloch. Während eine Abwesenheit solcher Spuren nicht unbedingt bedeutet, dass es keine Werkzeuge waren, so zeigt ihre Anwesenheit klar eine Benutzung als Werkzeug. Da man einige Spinnwirtel aus wertvollem Material gefunden hat, die solche Abnutzungsspuren aufweisen, kann davon ausgegangen werden, dass sie zumindest vereinzelt als Werkzeuge gebraucht wurden.

Die Nutzung von Spinnwirteln aus hochwertigen Materialien zeigt, wie wichtige diese Werkzeuge in der Gesellschaft des Frühmittelalters waren. Spinnwirtel aus Glas, Bergkristall oder Bernstein waren deutlich wertvoller als solche aus Ton. Sie zum Spinnen zu benutzen, dürfte aber keinerlei Vorteil in der Garnproduktion erbracht haben. Das heißt, dass es sich bei diesen Objekten um Statussymbole handelte, die zwar möglicherweise als Werkzeuge benutzt wurden, deren Hauptaufgabe aber die Vermittlung des Wohlstandes des:der Besitzer:in war. Vielleicht waren hochwertige Spinnwirtel als Grabbeigaben auch Erkennungszeichen besonders talentierter Spinner:innen. In diesen Fällen gehörte ihnen der Spinnwirtel vor ihrem Tod möglicherweise nicht selbst, sondern wurde ihnen nur im Nachhinein von Angehörigen mitgegeben um ihren Status innerhalb der Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen. Weiterhin besteht die Möglichkeit, dass hochwertige Spinnwirtel schon zu Lebzeiten als Statussymbole an talentierte Spinner:innen verschenkt (oder von ihnen erworben) wurden. Ob diese die Wirtel dann als Werkzeuge, als Schmuckgegenstände oder als ‚Ausstellungsstücke‘ nutzten, können wir heute nicht mehr nachvollziehen. Es ist allerdings gut möglich, dass unterschiedliche Personen solche Geschenke auch unterschiedlich nutzten, denn alle diese Funktionen sind uns aus Grabkontexten bekannt.

Abb. 9: Beispiele für die Grabposition eines Spinnwirtels mit Schmuck- oder Amulettfunktion. (Grafik: Wikimedia Commons; Bearbeitung: Lotta Dümeland)

Wirtel am Gürtel - Große Perlen oder symbolischer Schmuck?

Als Schmuck oder Amulett wird ein Spinnwirtel gedeutet, der auf Höhe des Gürtels, zwischen den Oberschenkeln, zentral auf dem Oberkörper oder in der Nähe eines Waffengriffs gefunden wird. Bei den ersten beiden Varianten geht man davon aus, dass die Wirtel als Schmuckstücke wie große Perlen an Zierbändern vom Gürtel herabhingen, oder den Gürtel selbst verzierten. Ein Spinnwirtel auf dem Oberkörper könnte an einem Band um den Hals gehangen haben. Die letzte Variante eines Wirtels in der Nähe des Griffs einer Waffe wird manchmal als Amulett gedeutet, dass im Kampf Glück bringen sollte.

Bei Wirteln die in Schmuck- oder Amulettpositionen angefunden wurden stellt sich allerdings grundsätzlich die Frage, in wie weit sie von ihren Träger:innen mit dem Werkzeug Spindel in Verbindung gebracht wurden, und in wie weit sie einfach als große Perlen betrachtet wurden. Insbesondere bei wertvollen Spinnwirteln aus Krieger:innengräbern ist diese Frage relevant, denn Krieger:innen hatten traditionell wenig mit der Textilproduktion zu tun. Dementsprechend ist ihre Beziehung zu den dazu verwendeten Werkzeugen ein Zeichen für die Stellung des Handwerks außerhalb der gesellschaftlichen Kreise, die es betreiben. Leider können wir mit den Informationen, die wir heute haben, zu keiner endgültigen Schlussfolgerung kommen, es gibt jedoch zwei Theorien.

Eine Möglichkeit ist, dass hochwertige Wirtel, die in Schmuck- oder Amulettlage gefunden wurden keinerlei gesellschaftlichen Bezug zum Spinnen hatten und lediglich als große Perlen angesehen und genutzt wurden. In diesem Fall wäre den meisten ihrer Träger:innen wohl eine Ähnlichkeit zu Spinnwirteln aufgefallen, sie hätten dieser allerdings keinerlei Bedeutung zugemessen. Möglicherweise gab es sogar eine für die damals lebenden Menschen eindeutige Unterscheidung in der Gestaltung der Schmuckwirtel zu den Spinnwirteln, die uns heute nicht mehr ersichtlich ist.

Die andere Möglichkeit ist, dass Wirtel, auch wenn sie als Schmuck oder Amulett getragen wurden, nie ihre Bedeutung als Werkzeug der Textilproduktion verloren haben. Talentierte oder wohlhabende Spinner:innen könnten sie als Erkennungszeichen getragen haben, genauso wie möglicherweise Personen, die mit Garn gehandelt haben. Insbesondere bei Krieger:innen besteht außerdem die Möglichkeit, dass die Spinnwirtel als direkte Verbindung zu ihren Verwandten oder Geliebten, die in der Textilproduktion tätig waren, gesehen wurden. Spinnwirtel, die wie Amulette an Waffengriffen getragen wurden, könnten zum Schutz der Krieger:innen gedient haben, indem sie eine direkte Verbindung zu der sicheren, häuslichen Tätigkeit des Spinnens oder zu diese Tätigkeit ausführenden Personen herstellten.

Von Handarbeit zur Industrialisierung, vom Handwerk zum Hobby – Entwicklungen in der Neuzeit

Natürlich können wir nicht mit Sicherheit sagen, welchen Stellenwert das Spinnen (und die Kleidungsherstellung im Allgemeinen) für die Menschen des Frühmittelalters hatte. Die Häufigkeit, mit der Spinnwirtel als Grabbeigaben verwendet wurden, spricht aber dafür, dass Spinnen für viele Personen ein großer Teil der Identität war. Die Existenz von Spinnwirteln aus wertvollen Materialien lässt außerdem darauf schließen, dass Spinnen zumindest in einigen Kreisen durchaus hoch angesehen war. Es lässt sich vermuten, dass ähnliches für die anderen Schritte der Kleidungsherstellung galt.

Abb. 10: Die italienische Garnfabrik Mylius-Bernocchi im Jahr 1920. (Foto: Bernocchi Archives, Wikimedia Commons)

Woher kam diese Wertschätzung, und warum scheint sie heute verschwunden zu sein? Auch das lässt sich natürlich nicht abschließend feststellen. Es liegt aber nahe, dass die Wertschätzung des Prozesses mit dem hohen Wert von Kleidung in Verbindung stand. Kleidungsstücke waren lebensnotwendige Gegenstände, ohne die das Leben für die Menschen des Frühmittelalters deutlich schwieriger gewesen wäre. Ihre Herstellung dauerte aber so lange, dass die meisten Menschen nur sehr wenige Kleidungsstücke besaßen, sodass diese sehr wertvoll waren. Dementsprechend hatten die Personen, die Kleidung herstellten, eine sehr wichtige Rolle in der Gemeinschaft.

Durch die Industrialisierung und die Auslagerung der westlichen Kleidungsproduktion in Länder, in denen die Produktionskosten niedrig gehalten werden können, hat die meiste Kleidung für uns diesen Wert verloren. Kleidung ist so günstig, dass der zeitliche Aufwand der hinter ihrer Produktion auch heute noch steckt (auch wenn er nicht mehr mit dem im Mittelalter zu vergleichen ist) leicht zu übersehen ist. Dementsprechend wenig Wertschätzung erhalten diejenigen, die die Kleidung herstellen.

Abb. 11: Moderne Handspindeln aus Holz. (Foto: grizzlymountainarts, Wikimedia Commons)

Gleichzeitig haben sich über die letzten Jahre unterschiedliche Schritte der Kleidungsherstellung zu Hobbies weiterentwickelt. Stricken, Häkeln und Nähen sind besonders beliebt, aber auch Weben und Spinnen (mit Spinnrädern und Handspindeln) werden als Freizeitbeschäftigung wahrgenommen. Und auch wenn es heute nur in den wenigsten Fällen möglich (geschweige denn günstiger) ist, den Inhalt des eigenen Kleiderschranks komplett selbst herzustellen, machen diese Hobbies nicht nur Spaß, sondern vermitteln auch eine erneute Wertschätzung für die Kleidungsherstellung – in der Vergangenheit und in der Gegenwart.

Lotta Dümeland, Studentische Praktikantin

Ich studiere Geisteswissenschaften mit dem Schwerpunkt Alte Geschichte, Altertumswissenschaften und Archäologie. In meiner Freizeit nähe und stricke ich gerne, und während ich an diesem Blogeintrag gearbeitet habe, habe ich mir von meiner Oma Weben und Spinnen beibrigen lassen - allerdings mit Methoden des 19. und 20. Jahrhunderts. 

Literaturverzeichnis

ARENDS 1978

U. Arends, Ausgewählte Gegenstände des Frühmittelalters mit Amulettcharakter (Heidelberg 1978).

 

BOHNSACK 1985

A. Bohnsack, Spinnen und Weben: Entwicklung von Technik und Arbeit im Textilgewerbe (Hamburg 1985).

 

RÖBER 1991

R. Röber, Die Spinnwirtel der spätsächsischen Siedlung Warendorf. In: B. Trier (Hrsg.), Ausgrabungen und Funde in Westfalen-Lippe Jahrgang 6 Teil B (Mainz a. Rh. 1991), 1-21.

 

WINKELMANN 1954

W. Winkelmann, Eine westfälische Siedlung des 8. Jahrhunderts bei Warendorf, Kr. Warendorf. In: Römisch-Germanische Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts (Hrsg.), GERMANIA Jahrgang 32 Heft 3 (Frankfurt a. Main 1954), 189-213.

 

WINKELMANN 1958

W. Winkelmann, Die Ausgrabungen in der frühmittelalterlichen Siedlung bei Warendorf (Westfalen). In: Römisch-Germanische Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts (Hrsg.), Neue Ausgrabungen in Deutschland (Berlin 1958), Sonderdruck.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: © Kris Atomic (Wikimedia Commons); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Female_models_on_the_catwalk_(Unsplash).jpg

Abb. 2: © Cornelia Moors, LWL-Archäologie

Abb. 3: Aus dem Maastricht Book of Hours, 1300-1325 (Wikimedia Commons); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Maastricht_Book_of_Hours,_BL_Stowe_MS17_f032r_(detail).png

Abb. 4: © Cornelia Moors, LWL-Archäologie

Abb. 5: © Lotta Dümeland

Abb. 6: R. Röber, Die Spinnwirtel der spätsächsischen Siedlung Warendorf. In: B. Trier (Hrsg.), Ausgrabungen und Funde in Westfalen-Lippe Jahrgang 6 Teil B (Mainz a. Rh. 1991), 2.

Abb. 7: © The Metropolitan Museum of Art; https://www.metmuseum.org/art/collection/search/239919?ft=spindle+whorl&offset=40&rpp=40&pos=53

Abb. 8: © RootOfAllLight (Wikimedia Commons); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Coa_Illustration_Skeleton.svg

Abb. 9: © RootOfAllLight (Wikimedia Commons); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Coa_Illustration_Skeleton.svg

Abb. 10: © Bernocchi Archives (Wikimedia Commons); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fashion_textile_spinning_production_in_the_Italian_factory_Mylius-Bernocchi_1920.jpg

Abb. 11: © grizzlymountainarts (Wikimedia Commons); https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Birch_and_Colorwood_Bottom_Whorl_Plying_Spindles_(8165765549).jpg