Alles andere als nur ein Trinkgefäß

03.11.2022 Praktikant:in

Abb. 1: Der Messkelch aus Zinn. Es ist zu erkennen, dass der Fuß der am besten erhaltene Teil des Kelchs ist. ©LWL-Museum für Archäologie Herne (Foto: Cornelia Moors)

Beschreibung

Die Dauerausstellung des Museums hat viele Aspekte, die einem in Erinnerung bleiben. Für mich trifft das besonders auf den Messkelch zu, den ich liebevoll den „Heiligen Gral“ nenne.

Seine Inszenierung ist mir direkt im Kopf geblieben, mehr sei jetzt jedoch noch nicht verraten. Es war mir somit recht schnell klar, dass ich meinen Blogeintrag über den Messkelch schreiben möchte. Dieser Kelch besteht aus Zinn und ist 19 cm hoch. Der Kelch wird in das 17. Jahrhundert datiert und ist am blütenförmigen Fuß recht gut erhalten. Bewegt sich der Blick jedoch den Kelch hinauf, fällt auf, dass doch einige Gebrauchsspuren sowie Zeichen des Verfalls zu erkennen sind. Das betrifft vor allem die Schale und den Lippenrand. Der Knauf, (die breitere Stelle zwischen dem Fuß und der Schale), ist so gut erhalten, dass noch Einkerbungen zu erkennen sind.

Der Kelch wurde im Jahr 1976 im Grab des Everhard Nahrichten gefunden. Bei diesem handelt es sich auch um den Erbauer der Kirche St. Ursula in Rüthen-Meiste (Kreis Soest). Bei Everhard Nahrichten handelte es ich um den Erbauer der Kirche, die im Jahr 1735 errichtet wurde. Everhard Nahrichten konnte Messen dort jedoch nicht lange miterleben, da er im Jahr 1737 starb und in der Kirche bestattet wurde. Zusätzlich zum Kelch konnte in seinem Grab auch ein Messgewand gefunden werden. Dieser seltene Fund wurde knapp 40 Jahre nach Auffindung durch Susanne Bretzel-Scheel, Restauratorin der LWL-Archäologie für Westfalen, aufwändig restauriert.

Ein religiöser Umbruch im 18. Jahrhundert

Trotz seines Todes im Jahr 1737 hat Everhard Nahrichten noch die Anfänge eines religiösen Umbruchs mitbekommen, der für die Geschichte des christlichen Glaubens auch in Westfalen eine wichtige Rolle spielt. Ab den 1730er Jahren war ein langsamer Rückgang der religiösen Teilnahme im Bereich des heutigen Nordrhein-Westfalen zu verzeichnen. Im Laufe der Zeit nahmen immer weniger Menschen am protestantischen Abendmahl teil, was in den Städten stärker als auf dem Land zu beobachten war. Grund dafür war unter anderem, dass die Menschen vermehrt selber entschieden, in welcher Beziehung sie zu ihrem Glauben an Gott standen. Somit bildeten sich einzelne kleinere Gruppen mit einer eigenen, persönlichen Beziehung zu Gott. Viele dieser Gruppen waren sich einig, dass die Kirche zu sehr verweltlichte und zu viel Einfluss auf die Politik habe. Mit der Zeit gewannen Privatkommunionen vermehrt an Beliebtheit und auch Beerdigungen wurden nur noch in kleinerem Kreis abgehalten. Mit der voranschreitenden Rationalisierung der Glaubenslehren gewannen Tätigkeiten, die einen Zweck im Diesseits erfüllten, vermehrt an Bedeutung. Als Beispiel lässt sich Seelsorge oder auch Sozialfürsorge nennen. Man kann somit einen Wechsel von einem jenseitigen zu einem mehr diesseitigen Glaubensbild erkennen.

Doch wie kam es überhaupt zu diesen Unruhen? Dazu gibt es mehrere Hypothesen. Bei der ersten Hypothese handelt es sich um die Differenzierungshypothese. Sie beschreibt, dass es mit der Spaltung durch die Reformation zunächst an den Herrschern der jeweiligen Gebiete lag, ein einheitliches religiöses Miteinander sicherzustellen. Dies resultierte darin, dass sich Kirche und Herrschaft in manchen Bereichen überlappten. Durch den Dreißigjährigen Krieg allerdings wurde klar, dass eine konfessionelle Einheit nicht möglich war. Als kurze Erklärung: Beim Dreißigjährigen Krieg handelte es sich um mehrere von 1618 bis 1648 andauernde Auseinandersetzungen, in denen es darum ging, die religiöse Vorherrschaft im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches zu sichern. Somit kam es zur Trennung der Aufgaben von Politik und Kirche. Auch in anderen Bereichen, wie beispielsweise in der Bildung, verlor die Kirche an Kontrolle.

Die zweite Hypothese, Markthypothese genannt, spricht davon, dass die verschiedenen sozialen Institutionen mit der Zeit die Kontrolle über die Menschen verloren, da sich unter anderem im Bereich der Wissenschaft ein Handel unter den Bürgern freier von Staat und Kirche entwickelte, was mehr Individualität ermöglichte. Vermehrt kam auch die Anschauung auf, dass Herrscher und ihre Gebiete nicht von Gott, sondern von den Bürger:innen legitimiert werden sollten. Es entwickelten sich neue soziale Beziehungen und auch der Konsum gedruckter Literatur stieg an. Dies führte zu einer stärkeren Aufklärung sowie zu einer stärkeren Verbreitung von Informationen. Mit der Zeit sah sich die Kirche einer stetig größer werdenden Konkurrenz durch ein steigendes Angebot im Freizeit- und Kulturbereich gegenüber.

Die dritte Hypothese, die Pluralisierungshypothese, beschreibt die vermehrt aufkommenden Alternativen innerhalb des kirchlichen Bereiches. Zuvor war es selbstverständlich, dass es nur eine herrschende Religion in einem Staatswesen gibt. Da, ähnlich wie bei der Differenzierungshypothese, eine konfessionelle Einheit nun nicht mehr möglich war, festigte sich der Gedanke, Kirche und Politik voneinander zu trennen. Es wurden somit religiöse Differenzen geduldet, was jedoch nicht gewollt geschah. Der Konfessionszwang wurde somit abgeschwächt.

Die letzte Hypothese ist die Horizonterweiterungshypothese. Sie besagt, dass es im Laufe des 17. & 18. Jahrhunderts zu einer Horizonterweiterung der Menschen in Bezug auf die Zukunft kam. Es wurde ein Fokus auf die Gegenwart gelenkt und es bildete sich der Gedanke, dass nicht Gott, sondern die Menschen etwas an der Situation im Diesseits ändern müssen. Da religiöse Gedanken das Handeln vieler Menschen weniger stark beeinflussten, war es möglich, das Diesseits nicht nur als einen Ort zu sehen, der zwischen ihnen und dem Reich Gottes stand, sondern als einen Ort, der durch sie verbessert und gewandelt werden kann. Dies resultierte in einem technischen Fortschritt sowie dem Rückgang der Mortalität gegen Ende des Jahrhunderts.

Abschließend sei noch gesagt, dass sich keine dieser Hypothesen eindeutig be- oder widerlegen lässt.

Abb. 2: Ein Blick in das Innere des Kirchen-Kubus. Im hellen Raum ist der Kelch zu sehen, dahinter der Kreuzbalken. ©LWL-Museum für Archäologie Herne (Foto: Cornelia Moors)

Warum der Kelch mein Favorit ist

Ich habe mich für dieses Exponat entschieden, da ich mich, auch wenn ich selbst kein religiöser Mensch bin, dafür interessiere, warum Menschen glauben. Dies begann mit meinem Interesse für die Kreuzzüge, welche zu den ersten Themen gehörten, mit denen ich mich in meinem Studium auseinandergesetzt habe. Zusätzlich bin ich ein Fan von Geschichten über heilige und übernatürliche Artefakte, die heute verschwunden sind. Als ich in der Dauerausstellung den Kubus mit dem Kelch betrat, wurde ich von einem Chorgesang begrüßt, der den Kelch umso imposanter wirken ließ. Somit musste ich direkt an den Heiligen Gral denken.

Abb. 3: Der Balken des Altarkreuzes. Zu erkennen sind die zwei Arme Christi. ©LWL-Museum für Archäologie Herne (Foto: Cornelia Moors)

Die Darstellung des Kelchs

Der Kelch ist in der Dauerausstellung besonders in Szene gesetzt. Wie bereits erwähnt, wird man beim Betreten des Kubus zunächst von Kirchenglocken und anschließend einem Kirchenchor begrüßt. Je nachdem, welchen Eingang zum Kubus man verwendet, fällt der Blick zunächst auf eine Säule, die in jeweils einer Vitrine die Bruchstücke eines Kastenreliquiars und eine alte Fensterscheibe mit Bleifassung beinhalten. Geht man nun an dieser Säule vorbei, blickt man direkt auf den Kelch, welcher sich in einem separaten Raum im Kubus befindet. Dies lässt sich sehr schön in Bild 2 erkennen. Behält man diesen Blickwinkel bei, befinden sich links in der Wand verschiedene Schalltöpfe. An die rechte Wand werden von einem Beamer verschiedene Stellen aus der Capitulatio de partibus Saxoniae, einem von Karl dem großen während der Sachsenkriege erlassenen Gesetzestext, projiziert. Während der Rest des Kubus vergleichsweise dunkel gehalten wurde, steht der Kelch auf einem Podest in einem hellen Raum, was ihn noch stärker hervorhebt. Es wirkt, als strahle ein Licht aus dem Himmel auf diesen Kelch. Hinter dem Podest befindet sich ein aus Knochen geschnitzter Kreuzbalken, welcher auf die 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts datiert wird. Hierbei handelt es sich um den waagerechten Balken des Kreuzes, auf dem noch die Arme des gekreuzigten Jesus zu sehen sind. Auch wenn ein Gefäß vor einem Kreuz nicht unbedingt ungewöhnlich für eine Kirche ist, fühlt es sich doch etwas an, als habe man den Heiligen Gral gefunden.

Autorin: Zoe Mießner

Literaturverzeichnis

S. Bretzel-Scheel/S. Heitmeyer-Löns/B. Münz-Vierboom, Ein textiler Schatz im Fundarchiv geborgen – das Messgewand aus Rüthen-Meiste. In: Archäologie in Westfalen-Lippe 2019 (Langenweißbach 2020) S. 283–287.

 

D. Pollack, Der religiöse Umbruch im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Religion und gesellschaftliche Differenzierung. Studien zum religiösen Wandel in Europa und den USA III (Tübingen 2016) S. 145–167.

 

G. Mann, Das Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. In: Propyläen Weltgeschichte. Von der Reformation zur Revolution 7 (Berlin 1991) S. 133–230.